Schulautonomie als Wunderwaffe: Ein Schlagwort, das alles verspricht

Wieder einmal wird uns mit großen Worten die schöne neue Welt versprochen. Doch ein realistischer Blick auf das Mantra der Bildungsdiskussion lohnt sich.

Kurz möchte man mitjubeln. Die Verwalter und Gestalterinnen der Bildungspolitik haben den Stein der Weisen gefunden. Das Wundermittel heißt: Schulautonomie! Sie ist die Lösung aller Probleme, das A und O der Reformen, das Mantra sogenannter Experten und ihre Zauberformel. Die Autonomie ist offenbar ein pädagogischer Alleskönner.

Nun ist der Zuwachs an Selbstbestimmung eine gute Sache. Der Begriff der Autonomie hat eine lange, emanzipatorische Geschichte. Sie führt von der Aufklärung bis zur modernen Psychologie. Beiden bedeutet Autonomie eine Stärkung des Individuums und eine Absage an Fremdbestimmung. Kant definierte sie ähnlich wie seinen kategorischen Imperativ: „Das Prinzip der Autonomie ist also, nicht anders zu wählen als so, dass die Maximen seiner Wahl zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“

Autonomie bedeutet bei ihm mehr Mündigkeit und eine Absage an eine von oben angeordnete Pflichtmoral. Gleichzeitig bleibt sie aber an die Grundsätze eines Gemeinlebens gebunden. Die Freiheiten, die man den vorgesetzten Mächten abringt, sollen in einer Gemeinschaft verwirklicht werden. Nicht der Fürst allein darf diktieren, sondern gleichberechtigte Individuen sollen verantwortungsbewusst ein Gemeinwohl herstellen: Ein schöner Gedanke, der Herrschaftsabbau verspricht und Gemeinsinn voraussetzt.

In der heutigen Schuldebatte entdecken wir noch Spuren dieser emanzipatorischen Idee, insbesondere im Organisatorischen. Hier spricht alles gegen anachronistische Instanzenwege und viel für Entscheidungen am Schulstandort.

Gleichzeitig aber kann man nicht blind dafür sein, dass der Begriff Autonomie heute Mesalliancen eingegangen ist. Eine ist jene mit dem Neoliberalismus. Durch sie verblassen jene Grundsätze, die Kants Ethik noch voraussetzt. „Autonomie“ verspricht jetzt die Befreiung von Vorschriften: „Wenn du es gut meinst, kannst du tun, was du willst.“ Während aber bei dem verwandten Begriff der Freiheit immer die Frage „Freiheit wozu?“ und nach der Freiheit des anderen mitschwingt, fehlt bei der Autonomieforderung dieses Korrektiv.

Für wen die Schulautonomie gelten soll, bleibt vage und undefiniert. Was bedeuten „autonome Entscheidungen“ im Spannungsfeld von Lehrerinnen, Eltern und Schülern konkret? Wessen Interessen werden gestärkt, welche geschmälert? Sollen Direktionen ihre Pädagoginnen aufnehmen und entlassen? Soll der einzelne Schulstandort selbstständig bestimmen, welche Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden und welche nicht? Sind Autonomierechte für die Schulleitungen reserviert, oder gelten sie auch für die Eltern?

Zuletzt haben sich mehrere Landesschulratspräsidenten abwartend zu einer unbeschränkten Schulautonomie geäußert. Man sollte ihnen keine Statusangst unterstellen. Die Wissenschaft ist schon länger skeptisch, befürchtet bei uneingeschränkter Schulautonomie soziale Rosinenpickerei: Die guten ins Kröpfchen und alle, die „nicht zum Schulprofil passen“, irgendwo anders hin. Attraktive Standorte würden stärker, aber die Kluft zu den „Restschulen“ noch tiefer als bisher.

Der Autonomiewunsch lebt heute in einer Dreierbeziehung: Seine Partner sind der Neoliberalismus und ein stetig wachsender Narzissmus. Beide bedient er gut. Den Neoliberalismus mit der Abweisung von Hilfsbedürftigen, den Narzissmus mit der Aussicht auf mehr egozentrische Selbstverwirklichung. In diesem Setting kann die Konjunktur des Autonomiebegriffs nicht überraschen. Schule aber ist kein pädagogischer Manchesterliberalismus, sondern an Prinzipien gebunden. Sie muss Gemeinschaft herstellen, nicht zerreißen.

Noch ist kein Grund, den Teufel an die Wand zu malen. Die Frage aber, wie weit eine Autonomie zentrifugale Kräfte freisetzt, sollte alle jene nachdenklich stimmen, die sich noch ein Denken und Fühlen in den Kategorien einer Gemeinschaft bewahrt haben.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2016)

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