Warum Kritik an der Schule und den Lehrern so populär ist

Bei Rot da steh, bei Grün da geh, bei Gelb gib acht – so wird's gemacht! Ein Blick in den Spiegel täte Schulkritikern gut.

Personen der Handlung: Ein Polizist, eine Lehrerin, Schulkinder. Ort: Wien Neubau, eine Straßenkreuzung. Zeit: 2015/16.

Ich stieß zufällig zu der Gruppe. Die Fußgängerampel hatte gerade auf Rot gewechselt, und ich wartete hinter einer fröhlich schnatternden Volksschulklasse. Der Polizist zu den Kindern: „Aufpassen: Überquert nie bei Rot den Zebrastreifen! Das tun viele Erwachsene. Auch wenn ein Erwachsener bei Rot über die Ampel geht, dürft ihr nie mitgehen!“ Die Lehrerin: „Bitte, hört zu: Nie bei Rot über die Ampel, auch wenn das ein Erwachsener tut.“ Die Kinder nickten.

Es wurde Grün, und wir gingen über die Kreuzung. Die Szene blieb mir im Gedächtnis, auch wenn ich nicht weiß, ob man daraus eine große Lehre ziehen kann. Andrerseits schimmert hinter kleinen Episoden oft eine größere Wahrheit durch. Man könnte nämlich die Geschichte auch anders formulieren: Eine Volksschullehrerin und ein freundlicher Polizist übernehmen eine Erziehungsaufgabe. Ihnen ist die Sicherheit der Kinder ein Anliegen. Daher warnen sie vor dem Verhalten mancher Erwachsener. Diese seien im Alltag keinesfalls immer ein Vorbild. Zusammengefasst: Lehrerinnen, die so erziehen, handeln verantwortungsbewusst.

Fragt man jedoch Erwachsene nach ihrem Urteil über die Schule, tut sich ein greller Kontrast auf. Nicht die Erziehungsanstrengungen der Lehrerinnen und Lehrer stehen im Vordergrund, sondern die Kritik an der Institution. Das mag menschlich verständlich sein. Sind wir nicht alle so? Kaum jemand jubelt, wenn sein Auto verlässlich startet. Was problemlos funktioniert, finden wir selbstverständlich. Wenn aber die Batterie leer ist, ärgern wir uns und schimpfen. Mit der Schule ist es nicht viel anders. Sie ist tagtäglich da. Wenn sie meine Ansprüche erfüllt, ist das selbstverständlich. Bleibt einer offen, beginnt die Suche nach Schuldigen. Ich selbst bin es nie, nicht beim Auto und nicht bei der Erziehung.

Diese Kritik an der Schule wird uns durch zweierlei leicht gemacht: Zitate von Berühmtheiten und biografische Halbwahrheiten. Die negativen Kommentare über die Schule reichen von Goethe bis zur Gegenwart. „Pfaffen und Schulleute quälen unendlich“, schrieb der Geheimrat 1817 seinem Freund Knebel. Konkret meinte er allerdings nicht den Schulunterricht, sondern die Feiern zum Reformationsjubiläum. Robert Musil schilderte im „Zögling Törleß“ seine eigenen schlimmen Erfahrungen: die in Militärinternaten einer längst untergegangenen Monarchie. Friedrich Torberg, in Wien an Glöckels fortschrittliche Reformschulen gewöhnt, verarbeitete im „Schüler Gerber“ sein späteres Versagen im autoritären tschechoslowakischen Gymnasialsystem.

Wer immer Porträts der Schwarzen Pädagogik zitiert, bezieht sich meistens auf einen Erziehungsstil, der gottlob Geschichte ist: Welcher „Gott Kupfer“ würde heute den Eltern eines Schülers glatt ins Gesicht sagen, er werde ihren Sohn schon noch brechen, wenn er ihn nur in die Finger bekomme?

Auch der Vorwurf, die Schule und ihre Noten würden wenig über die wahren Begabungen aussagen, ist populär. Und falsch. Er tröstet, wenn man mit den Noten der eigenen Kinder unzufrieden ist. Wahr ist er nicht. Dass der Nobelpreisträger Einstein ein Schulversager war, ist ein unausrottbarer Irrtum. Sein erster Biograf hat das Schweizer mit dem deutschen Notensystem verwechselt und übersehen, dass die Fünfer und Sechser in Einsteins Abschlusszeugnis in der Schweiz die Bestnoten waren. Einstein war ein eigenwilliger, ein glänzender Schüler.

In diesen Tagen öffnet die Schule Hundertausenden Kindern und Eltern ihre Tore. Die Kritik an ihr ist populär, auch deshalb, weil sie vielen Erwachsenen den Blick in den Spiegel erspart. Dabei könnte man den Lehrerinnen und Lehrern bei der Erziehungsarbeit so leicht helfen: Statt sich über ihr angebliches Versagen zu empören, würde es zum Beispiel schon genügen, im Angesicht von Kindern nicht bei Rot über eine Kreuzung zu gehen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang des Jahres ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2016)

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