Wie sich doch die Bilder gleichen: Der Geist von Évian 1938 und 2005

Ein Debakel! So lautet das Urteil über eine Flüchtlingskonferenz für die bedrohten Juden Hitlerdeutschlands am Genfer See vor 78 Jahren. Sind wir heute besser?

Selbst wenn man den einstigen Bestsellerautor Hans Habe nicht zu seinen literarischen Favoriten zählt, bleibt er ein interessanter Zeitzeuge. Nach dem Abgang seines skandalumwitterten Vaters, Imre Békessy, aus Wien (Karl Kraus: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft“) war der Sohn, der lieber einen Künstlernamen trug, in den 1930er-Jahren Korrespondent beim Völkerbund in Genf. Seine Berichte lesen sich heute noch spannend. So etwa über die Konferenz von Évian.

In diesem Badeort der Reichen traf Hans Habe im Sommer 1938 einen Wiener Otologen. Heinrich Neumann von Héthárs war eine internationale Kapazität, zu seinen Patienten zählte der König von Spanien. Nun war er, versehen mit einer Sondergenehmigung des Reichsstatthalters Seyß-Inquart, Delegierter der Wiener Kultusgemeinde bei der Flüchtlingskonferenz von Évian. Vertreter von 32 Staaten sollten Aufnahmequoten für die bedrohten Juden Hitlerdeutschlands vereinbaren. Wie kläglich diese Initiative scheiterte, wirkt aktuell.

Die Eröffnungsrede des Delegierten der Vereinigten Staaten, die den Anstoß zu dem Treffen gegeben hatten, ernüchterte die Versammlung. Die USA würden lediglich die bisher geltenden Einwanderungsquoten zulassen – nicht weniger und vor allem nicht mehr. Finanziert werden müsse Emigration durch private Organisationen. Der Schweizer Vertreter betonte, dass sein Land nur ein Transitland sei und keine Flüchtlinge hereinlassen könne, die über Drittstaaten kämen. Die Briten hielten angesichts der Unruhen in Palästina an den Einreisebeschränkungen für ihr Mandatsgebiet fest.

So gut wie alle Delegierten reklamierten einen Notstand, weil ihre Länder die Wirtschaftskrise von 1929 noch nicht überwunden hätten. Kanada erlaubte die Einreise bloß für jene, die genug Vermögen zur Bewirtschaftung einer Farm mitbrächten. Nationalistische und antisemitische Vertreter osteuropäischer Staaten wiederum witterten die Chance, ungeliebte Minderheiten loszuwerden. Nicht um die Ausreise einer halben Million Juden aus dem Deutschen Reich – davon etwa 180.000 im annektierten Österreich – gehe es, sondern um die Auswanderung von Millionen aus ihren Ländern.

Angesichts dieser Ablehnungsfront hatten die 39 jüdischen Organisationen, die Vertreter entsandt hatten, keine Chance. Sie mussten im Vorzimmer warten und erlebten dann die Absicht der Industriestaaten, Flüchtlinge in möglichst weit entfernte Regionen zu dirigieren – nach Birobidschan, Angola, Madagaskar oder Kenia. Kurze Hoffnung verlieh der Konferenz ausgerechnet ein Diktator. Rafael Trujillo stellte die Einwanderung von 10.000 Juden in Aussicht. Er wollte die Dominikanische Republik nach der Ermordung von tausenden dunkelhäutigen haitianischen Wanderarbeitern „rassisch aufhellen“. Angekommen sind 600.

Folgen wir Hans Habe, hatte Évian auch schöne Seiten. Delegierte nahmen Mineralbäder, ließen sich massieren, machten Ausflüge nach Chamonix, ritten, spielten Golf und besuchten das Kasino, ein Amerikaner sprengte die Bank.

Manchen missfiel das. Golda Meir etwa: „Wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie gern sie doch eine größere Zahl an Flüchtlingen aufnehmen würden und wie schrecklich sie bedauerten, dass sie das leider nicht könnten, war eine furchtbare Erfahrung.“ Auch die Vertreter der Wiener Juden konnten nach ihrer Rückkehr der Gestapo nicht das geforderte Ergebnis melden.

67 Jahre später, 2005, tagte in Évian eine Konferenz der Innenminister von Italien, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Deutschland zum Thema „Die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und konsequente Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer“. Flüchtlinge ohne Papiere dürften nicht aufgenommen und illegal Eingereiste würden repatriiert werden. Man darf darüber nachdenken, ob der gelegentlich zitierte „Geist von Évian“ ein Produkt menschlichen Denkvermögens oder bloß ein Gespenst ist.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2016)

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