Bierdeckel und Parteiendemokratie: Demagogie hat die Mitte erreicht

Das Klagen über die Politik ist endemisch. Manchmal schimpfen auch jene, die allen Grund zu Stolz hätten. Zum Beispiel die Wirtschaftskammer Wien.

Ab und zu vergeht einem der Appetit. Etwa neulich, als ich in einem kleinen Tennisbuffet nach dem Bierdeckel griff. Er trug eine Aufschrift. Wo üblicherweise die Getränkemarke angepriesen wird, prangte ein Slogan: „Politikerwürstel mit scharfem Senf“. Zuerst dachte ich an den Scherz eines Bierbrauers. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die Aufschrift „Politikerwürstel“ jedoch als Aktion der Wirtschaftskammer. Die hat offenbar die Stammtische entdeckt: Politiker als Würstel.

Die Wirtschaftskammer ist jene Organisation, der einst die Gründungsväter der Zweiten Republik angehörten. Staatsvertragskanzler Julius Raab etwa, er war ihr Präsident. Oder dessen engster Mitarbeiter, Reinhard Kamitz – laut dem Historiker Roman Sandgruber „ein herausragender Finanzminister der Zweiten Republik“.

Ludwig von Mises, konsequenter Liberaler und wichtiger Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie, hielt sein Privatseminar in der Handelskammer ab. Heute gehören Günter Stummvoll, Hans Jörg Schelling, Christoph Matznetter und Reinhold Mitterlehner der Wirtschaftskammer an: Honorige Persönlichkeiten. Sind sie mit der Kampagne „Politiker = Würstel“ ihrer Kammer glücklich?

Vor einigen Wochen wurde der Innenminister in einem Interview hartnäckig zum Rücktritt aufgefordert. Der Grund: Er trage die „politische Verantwortung“ für die mangelhaften Klebestreifen auf den Wahlkuverts. Angesichts solcher Rücktrittseinladungen fragt man sich, ob es auch bei der Wirtschaftskammer Wien jemanden gibt, der für die Bezeichnung von Politikern als Würstel verantwortlich ist? Ist es ein untergeordneter Funktionär? Ist es die Medienabteilung? Ist es die Leitungsebene einer Organisation, die von gesetzlich vorgeschriebenen Mitgliedsbeiträgen lebt? Fühlt man sich dort noch in der Nachfolge staatstragender Persönlichkeiten wie Raab, Kamitz und Wolfgang Schmitz? Hätten die von Politikern als Würsteln gesprochen?

Irgendwann einmal, wenn auch bei uns der Populismus endgültig am Ruder ist, wird man sich fragen, wer zu dessen Anfängen beigetragen hat. Vielleicht wird man dann sehen, dass die Abwertung politisch Handelnder nicht mehr nur von den Rändern der Gesellschaft kommt: Die Demagogie hat die politische Mitte erreicht. Die Bierdeckelkampagne der Wirtschaftskammer ist ein trauriges Indiz dafür. Sie zielt auf den Applaus am Biertisch ab. Der ist billig.

Schwieriger ist es, heute etwas zur Verteidigung der Parteiendemokratie zu sagen. Etwa, dass meine Generation den „Politikerwürsteln“ einen Lottosechser verdankt: den, in der Zweiten Republik geboren worden zu sein und in Österreich leben zu können.

Freilich ist die Mode, an den Regierenden kein gutes Haar zu lassen, nicht neu. Die klügsten Komiker der vergangenen Jahrzehnte, Monty Python's Flying Circus, haben das unübertroffen beschrieben. Im „Leben des Brian“ tritt ein Demagoge auf, der gegen die Herrschaft der Römer polemisiert. Er donnert „Was haben die uns schon gebracht?“ ins Publikum.

Sein Pech ist, dass die Zuhörer die rhetorische Frage nicht verstehen, sondern sich ernsthaft um Antworten bemühen. Grübelnd antwortet einer: „Wir verdanken ihnen die Aquädukte.“ Ein anderer: „Und die Kanalisation.“ Dann prasseln die Antworten nur so herein. Jedem fällt eine Leistung der Gescholtenen ein: die Straßen, Medizin, Schulen, öffentliche Bäder, der Wein. Ungerührt fährt der Agitator fort: „Gut, aber was haben sie sonst noch für uns getan?“ Er fordert die sofortige Auflösung der römischen Unrechtsherrschaft. Treffender lässt sich die billige Kritik an der Politik nicht zusammenfassen.

Vielleicht sollten die Initiatoren der Bierdeckelkampagne einen Blick in die Geschichte ihres Hauses werfen. Sie werden dort keine Würstel finden, sehr wohl aber eine Antwort auf die Frage „Was haben uns die Politikerinnen und Politiker schon gebracht?“. Hoffentlich macht sie das für die nächste Kampagne klüger.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2001 ist er Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2016)

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