„Und willst du nicht mein Bruder sein...“ Wohin Narzissmus führen kann

US-Wahlduell 2000, französische Präsidentschaftswahl 2002, israelische Parlamentswahl 2013 – die Egotrips von Akteuren aus dem politischen Lager sind vor allem eines: kontraproduktiv.

Mit „Narzissmus der kleinen Differenzen“ benannte Sigmund Freud die Neigung der Menschen, ihre Missgunst und Aggression gegen andere zu richten, indem sie sich beziehungsweise ihre Gemeinschaft als irgendwie anders definieren. Eine Dynamik, die sich ununterbrochen wiederholt.

Mit Büchern über den Unterschied zwischen Wald- und Weinviertlern, Deutschen und Österreichern, Engländern und Schotten usw. ließen sich mühelos ganze Bibliotheken füllen. Freud nannte diesen Hang der Menschen „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung“. Einige Jahre später brachte er auch den Antisemitismus mit dem „Narzissmus der kleinen Differenzen“ in Zusammenhang. Damit hatte dieser Begriff dann aber auch schnell seine Harmlosigkeit und Verspieltheit verloren.

Der Volksmund kennt den Kampfruf – „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein“ – und spricht damit schon eine deutlichere Sprache. Doch auch in der Politik erfreut sich diese Haltung größter Beliebtheit, obwohl damit oft größerer politischer Schaden in Kauf genommen wird.

Wir erinnern uns noch an die französischen Präsidentschaftswahlen 2002, als die Linke ihre Wählerschaft mit mehreren Kandidaten so pulverisierte, dass schließlich der Rechtsradikale Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl gegen den Kandidaten der Bürgerlichen, Jacques Chirac, einzog. Letztlich mussten die linken Wähler alle Chirac wählen. Hätte sich die Linke zuvor auf einen Kandidaten geeinigt, wäre dieser sehr wahrscheinlich siegreich gewesen.

Ähnlich kontraproduktiv war das Antreten Ralph Naders als Kandidat der Grünen im US-Präsidentschaftsduell 2000 zwischen George W. Bush und Al Gore. Mit großer Sicherheit nahm Nader Al Gore just jene Stimmen weg, die dieser für einen Sieg benötigt hätte. Ironie des Schicksals: Al Gore vertrat später genau jene Umweltthemen, die Nader meinte, unbedingt als Kandidat in den Wahlkampf einbringen zu müssen.

Auch bei den heutigen Wahlen in Israel könnte der Narzissmus – nicht nur der kleinen Differenzen –, sondern einiger politischer Akteure, eine ungewollte politische Richtungsentscheidung herbeiführen. Mehrere Mitte-links-Parteien, insbesondere die von Shelly Yachimovich geführte Arbeiter-Partei, sowie die liberalen Gruppierungen der ehemaligen Außenministerin Tzipi Livni und des früheren Fernsehjournalisten Yair Lapid wären nach den letzten Umfragen auf 35 bis 40 Mandate in der 120-sitzigen Knesset (dem israelischen Parlament) gekommen – wenn sie zusammen angetreten wären.

Dies ist doppelt bitter, zumal diese drei Politiker ähnliche Positionen über Verhandlungen mit den Palästinensern vertreten, die sich von jenen des jetzigen Premiers, Benjamin Netanjahu, deutlich unterscheiden. Netanjahu wurden zuletzt nur 32 Mandate zugetraut, sodass eine Mitte-links-Allianz zur stimmenstärksten Gruppierung hätte avancieren, einen neuen Premierminister und einen politischen Richtungswechsel hätte herbeiführen können.

In einer Zeit, in der individuelle Identität für das emotionale Überleben offensichtlich viel wichtiger geworden ist, benötigen wir zur Unterscheidung unumgänglich den/die „anderen“ als „Nicht-Ich“.


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Zum Autor:

Martin Engelberg

ist Psychoanalytiker, Coach und Consultant, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Mitglied der Vorstände der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sowie Mitherausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2013)

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