Antisemitismus in Europa: Wie dramatisch ist das Problem?

Eine jüngste EU-Umfrage unter jüdischen Menschen in acht EU-Staaten zeigt ein zunehmendes Gefühl der Bedrohung. Aber es ist nicht überall so.

Zwei Drittel der befragten Juden sehen in einer jüngst in acht Staaten der Europäischen Union durchgeführten Umfrage den Antisemitismus in ihrem Land als gravierend an, drei Viertel erleben diesen schlimmer als noch vor fünf Jahren. Die jüdische Befindlichkeit in Europa hat sich dementsprechend stark verschlechtert.

Aber wie sieht es mit den tatsächlichen Übergriffen aus? Bisher galt die Zahl der jeweils offiziell registrierten antisemitischen Vorfälle als Richtwert für Übergriffe auf jüdische Menschen in Europa. Diese Zahlen wurden jedoch als zu niedrig angesehen, da viele Vorfälle gar nicht bei Behörden angezeigt wurden und überhaupt nur 13 der 28 EU-Länder Statistiken über judenfeindliche Angriffe führen. Auch in der jüngsten Umfrage geben vergleichsweise nur geringe vier Prozent der Befragten an, sie seien im vergangenen Jahr tatsächlich bedroht worden beziehungsweise sogar ein Opfer von Gewalt gewesen.

Die Tatsache, dass die Hälfte der Übergriffe gegen Juden muslimischen oder linken Extremisten zugeschrieben werden, gibt einen Hinweis auf eine wichtige Wurzel des Problems: In einigen europäischen Ländern – insbesondere in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Schweden – sind die Spannungen zwischen den jeweiligen jüdischen Gemeinden und den stark wachsenden und oft radikalen muslimischen Gemeinschaften erheblich gestiegen.

Im März 2012 hat in Frankreich der mörderische Anschlag eines Jihadisten auf eine jüdische Schule mit vier Toten besondere Beunruhigung hervorgerufen. In der schwedischen Stadt Malmö machen Muslime bereits 15 Prozent der Bevölkerung aus, und die dort lebenden Juden sind zwischen die Fronten des Nahost-Konflikts geraten.

So kritisierte der sozialdemokratische Bürgermeister von Malmö die Juden, sie würden sich nicht genug von Israel distanzieren, und er meinte tatsächlich, man würde in seiner Stadt weder Antisemitismus noch Zionismus akzeptieren – fürwahr ein beunruhigender Vergleich. Europameister des althergebrachten Antisemitismus ist derzeit eindeutig Ungarn. Dort wird mit der Hetze gegen Juden und noch mehr gegen Sinti und Roma Politik gemacht – wie in den 1930er-Jahren. In Österreichs Nachbarland, immerhin Heimat der drittgrößten jüdischen Gemeinde Europas, fühlen sich dementsprechend 90Prozent der Juden sehr durch den Antisemitismus bedroht.

Österreich war nicht Teil dieser jüngsten EU-Umfrage zum Thema Antisemitismus. Eine Untersuchung der renommierten jüdisch-amerikanischen „Anti Defamation League“ im Jahre 2012 ergab für Österreich einen leichten, aber stetigen Rückgang antisemitischer Vorurteile in der Bevölkerung.

Dies gilt auch für tatsächliche Übergriffe. Auch wenn – je nach Zählart – zehn bis 30 Prozent der Österreicher als Antisemiten zu bezeichnen sind, gibt es im Umkehrschluss 70 bis 90Prozent an Menschen in Österreich, die jüdischen Menschen gegenüber indifferent oder aber sogar interessiert und wohlwollend gegenüberstehen. Sehr ähnlich dürfte die Situation in Deutschland sein.

Wie wäre es sonst erklärbar, dass sich in den letzten Jahren Berlin zur neuen Diaspora für Israelis entwickelt hat? Geschätzte 17.000 Israelis leben heute in der deutschen Hauptstadt, inmitten zahlreicher Denkmäler und Gedenktafeln zum Holocaust und zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Meschugge-Partys, Hummusrestaurants und eine eigene Homepage zeugen davon.

Wären diese Israelis nach Wien gekommen, hätte sich die Größe der hiesigen jüdischen Gemeinde damit verdreifacht. Inzwischen schwärmen die vorwiegend jungen Israelis von Berlin: Niedrigere Lebenshaltungskosten, ein multikulturelles Umfeld und eine höhere Lebensqualität hätten sie überzeugt, sich just in Deutschland niederzulassen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2013)

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