In Putins Russland braut sich eine gefährliche Mischung zusammen

Russland heute: Großmachtfantasien, ein übersteigertes Nationalbewusstsein – beides gepaart mit Rückständigkeit und zunehmend autokratischen Strukturen.

Wenn bei der Ankunft auf dem Flughafen nach Durchschreiten der Zollkontrolle der Überlebenskampf beginnt, befindet man sich erfahrungsgemäß in einem Dritt-Welt-Land. Aber auch auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo sieht man sich sofort einer unüberschaubaren Menge vorgeblich offizieller Taxifahrer und dubioser privater Chauffeure gegenüber, die einen zudringlich und mit undurchschaubaren Absichten bedrängen. Allein der bestellte Abholer ist nicht da – er steckt im Stau.

Schon die ersten Eindrücke einer kurzen Moskau-Reise sind prägnant. Während man in den USA neuerdings in Supermärkten nicht nur rund um die Uhr, sondern auch völlig automatisiert einkaufen und bezahlen kann, sitzt in der Moskauer U-Bahn am Ende einer Rolltreppe noch immer eine Aufsichtsperson den ganzen Tag in einer kleinen Hütte, um die Fahrgäste zu ermahnen, rechts zu stehen und links zu gehen. Ein weiteres untrügliches Zeichen für Rückständigkeit: Auch viele junge Moskauer sprechen nur ganz schlecht Englisch, so ist man angesichts der fast ausschließlich kyrillischen Aufschriften schnell einmal verloren.

Das große kulturelle und intellektuelle Potenzial Russlands steht völlig im Schatten der Großmannssucht nach dem Motto „Copy and paste“. Alle Hochhäuser wirken wie parodierte Kopien von New Yorker Originalen. Eine schier unzählbare Zahl an schwarzen Limousinen deutscher Luxusmarken überfluten die Moskauer Straßen. Damit erklärt sich der langjährige Boom der deutschen Automobilindustrie, schwarzer Autolack muss in Deutschland längst ausverkauft sein.

Ein besonderes Gustostückerl ist das Schicksal des legendären Hotels Moskva in unmittelbarer Nähe des Roten Platzes, ein Monumentalbau und protziges Glanzstück der Architektur der Stalin-Zeit. Man wollte dem Westen schon damals um nichts nachstehen. Merkwürdig die asymmetrische Fassadengestaltung mit einer schrägen Mischung an klassischen und dekorativen Elementen. Es hält sich die Mär, der Architekt habe beide Varianten durchgezeichnet und Stalin zur Entscheidung und Freigabe vorgelegt. Dieser habe jedoch seine Unterschrift in die Mitte gesetzt – und keiner traute sich nachzufragen, welche Variante Stalin letztlich eigentlich bevorzugte.

Die Groteske um dieses Hotel setzte sich später fort: Im Jahr 2002 wurde das monumentale Hotel geschlossen und abgerissen, um aber danach – man glaubt es kaum – eins zu eins wieder aufgebaut zu werden. Jetzt ranken sich die Legenden darüber, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist und wer wie viel Geld dabei verdient hat.

„Die Situation im heutigen Russland ist schlimmer als zu Zeiten der Sowjetunion“, beklagt eine russische Menschenrechtsaktivistin und berichtet, dass sich die meisten russischen Intellektuellen, Kulturschaffenden und Wissenschaftler überlegen, in westliche Länder auszuwandern. Tatsächlich verstärkt sich der Druck Wladimir Putins auf die verbliebenen Reste der Opposition fast täglich. Erst vor Kurzem wurde die Gesetzgebung gegen Medienunternehmen so verschärft, dass den letzten kritischen Organen ihre Schließung droht.

Gleichzeitig schwadroniert Putin offen darüber, welche europäische Hauptstadt er in wie vielen Tagen einnehmen könnte, und seine engsten Vertrauten verhöhnen den Westen als „verweichlicht“. „Ich hatte gehofft, dass Putin als ehemaliger KGB-Offizier, letztlich rational handeln würde. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher“, meinte ein russischstämmiger Geschäftsmann.

Russland hat es offenbar noch immer nicht verkraftet, mit dem Kollaps der Sowjetunion die Hälfte seiner Bevölkerung und ein Viertel seines Territoriums verloren zu haben. Jetzt versucht Putin, diesem Verlust und der Rückständigkeit des Landes mit einem neuen Nationalismus und dem Hochstilisieren von Feindbildern zu begegnen. Es ist in der Tat eine gefährliche Mischung, die sich in Putins Russland zusammengebraut hat. Es geschieht vor unserer Haustür.

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Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2014)

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