Gegen den Krieg und für Frieden sein: Europäer, das genügt nicht!

Erdoğans Türkei liefert mit teuflischem Kalkül zehntausende Menschen den IS-Mördern ans Messer, Europa sieht tatenlos zu: eine moralische Bankrotterklärung.

An dieser Stelle wurden schon wiederholt einige Punkte festgehalten, die auch im augenblicklichen Kampf um die nordsyrische Stadt Kobane wieder erkennbar sind. Erstens, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist ein skrupelloser Herrscher, der weitgehend enthemmt inner- und außerhalb der Türkei seine brutale Machtpolitik betreibt. Im aktuellen Konflikt scheut er sich nicht, mit den wahnsinnigen Islamisten zu paktieren und ihnen bei ihrem beabsichtigten Massaker an den syrischen Kurden die Mauer zu machen.

Gleichzeitig unterdrückt Erdoğan die eigene kurdische Bevölkerung und lässt deren Demonstrationen gewaltsam niederschlagen – mit Dutzenden Todesopfern. Geht es jedoch um die Hamas in Gaza, sendet Erdoğan scheinheilig immer gleich eine „Friedensflottille“ los. Es ist eine Schande, dass diese Türkei weiterhin ein Mitglied der Nato, die sich ja auch als eine westliche Wertegemeinschaft versteht, sein darf.

Zweitens: Schon im berühmten Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud unter dem Titel „Warum Krieg?“ wurde eine Weltpolizei gefordert. Ist eine solche im Rahmen der UNO nicht realistisch durchsetzbar, dann ist es die moralische Pflicht der westlichen Welt, die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte auch in anderen Ländern, nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln, zu verteidigen.

Wie viele Massaker wie jene von Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 brauchen wir denn noch, um endlich zu unseren ethischen und moralischen Verpflichtungen zu stehen? Wollen wir uns weiterhin damit begnügen, immer im Nachhinein peinliche Schuldeingeständnisse abzuliefern und den Hinterbliebenen Schadenersatzzahlungen zu leisten?

Es genügt nicht, selbstgefällig gegen Krieg und für Frieden zu sein. Die Lehre aus „Nie wieder Ruanda und Srebrenica!“ lautet nicht „Nie wieder Krieg!“, sondern die Bereitschaft, allenfalls auch zur Verhinderung einer Wiederholung solcher Verbrechen in einen Krieg zu ziehen. Drittens: Noch jeder, die USA auch nur ansatzweise wertschätzende Kommentar wird hierzulande sofort mit einem Geheul an antiamerikanischen Gehässigkeiten und Vorwürfen bedacht. Europa liebt es, sich den Vereinigten Staaten gegenüber moralisch überlegen zu fühlen und den Amerikanern bei allen ihren Handlungen von vornherein unlautere Motive zu unterstellen.

Aus aktuellem Anlass sei den Europäern aber wieder einmal ins Stammbuch geschrieben: Schande über Europa! Die USA haben wenigstens als Erste tausende Soldaten nach Westafrika geschickt, um bei der Bewältigung der Ebola-Epidemie zu helfen. Sie stehen als Einzige den Kurden bei der Verteidigung Kobanes militärisch bei. Unter einem anderen als dem von den Europäern so geliebten US-Präsidenten Barack Obama wäre Amerika den Islamisten vielleicht sogar noch aktiver entgegengetreten.

Aber wo sind die Europäer? Ist das erste Flugzeug mit Waffen aus Deutschland endlich bei den Kurden angekommen oder sitzt es infolge von zahllosen Pannen noch immer auf dem Weg dorthin irgendwo fest?

Haben wir eigentlich von der moralischen Instanz unseres Landes, unserem Staatsoberhaupt also, schon etwas in dieser Angelegenheit gehört? War es nicht Heinz Fischer, der sich erst vor Kurzem mit Kritik an Israel nicht zurückhalten konnte und auf eine öffentliche Polemik darüber einließ, ob denn das militärische Vorgehen Israels im Gaza-Krieg beträchtlich oder sogar extrem unverhältnismäßig gewesen sei. Fällt dem Bundespräsidenten zum Treiben der IS-Mörder nichts ein?

Es steht zu befürchten, dass sich die passive, ja verantwortungslose Haltung Europas noch bitter rächen wird. Den fürchterlichen Entwicklungen in der islamischen Welt und deren Auswirkungen vor allem auf Europa werden wir – früher oder später – mit viel mehr Entschlossenheit entgegentreten müssen. Je später das aber geschieht, desto höher wird der Preis werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2014)

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