Das gab's schon einmal: Die Juden sind nur die ersten Opfer, dann ...

Jüdische Organisationen in den USA und Israel rufen die Juden Europas immer lauter zur Emigration auf: nur aus Kalkül, Hysterie - oder gibt es Handlungsbedarf?

Der Terror der Islamisten in Europa hat System: Er richtet sich gegen Karikaturisten, stellvertretend für unsere westlichen Werte wie Meinungsfreiheit und Trennung von Staat und Religion. Und er richtet sich gegen Juden, weil sie Juden sind. Bei den Terroranschlägen auf eine jüdische Schule in Toulouse im Jahr 2012 und im Vorjahr auf das jüdische Museum in Brüssel richtete sich der Terror ausschließlich gegen Juden. In Paris und am Wochenende in Kopenhagen waren die Anschlagsziele zunächst Karikaturisten, aber in beiden Fällen wurden sogleich auch jüdische Einrichtungen attackiert.

Dennoch fällt es den meisten Politikern Europas offensichtlich schwer, das Kind beim Namen zu nennen: Eine Untersuchung aus dem Jahr 2014 zeigte, dass das Ausmaß des Antisemitismus unter den Muslimen in Europa erschreckend hoch ist. In Deutschland haben fast 80 Prozent der Muslime antisemitische Vorurteile, dagegen nur mehr noch knapp zehn Prozent in der deutschen Gesamtbevölkerung.

Aber auch wichtige Strömungen des Islam insgesamt sind judenfeindlich. In saudiarabischen Schulbüchern finden sich grobe antisemitische Stereotype, und diese Schulbücher werden auch an islamischen Schulen in Europa verwendet. Antisemitische Hetzschriften wie Hitlers „Mein Kampf“ oder „Die Protokolle der Weisen von Zion“ zählen in arabischen Ländern zu den Bestsellern.

Die Reaktionen Europas auf dieses Problem sind lau und nicht leicht zu verstehen. Ist es pure Gleichgültigkeit? Oder spielt die Überlegung eine Rolle, dass der Judenhass der Muslime wohl etwas mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun haben könnte? Beide Beweggründe wären ebenso falsch wie gefährlich.

Wie die Geschichte schon oft gezeigt hat, sind Juden meistens die ersten Opfer, wenn der Ungeist der Intoleranz und des Hasses um sich greift. Schon bald danach aber werden auch Journalisten, Künstler, Schwule, Andersdenkende und Frauen gejagt. In Abwandlung eines berühmten Bonmots aus der Nazi-Zeit sei den europäischen Gesellschaften ins Stammbuch geschrieben: „Als die Islamisten die Juden attackierten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Jude. Und so ging es mit jeder Gruppe weiter, bis sie mich holten. Und dann gab es niemanden mehr, der mir noch beistehen konnte.“

In der vergangenen Woche tagte in Wien die größte jüdische Dachorganisation der USA. Deren Präsident ließ sich in einem Interview mit dem „Standard“ mit der Aussage zitieren, die Juden sollten sich vorbereiten, Europa zu verlassen.

Im Zuge einer heftigen Diskussion warf ich ihm vor, dass diese Aussage unverhältnismäßig und politisch unklug sei. Die Juden Europas müssten sich vielmehr als Teil der europäischen Gesellschaften begreifen und in deren Mitte vereint gegen den Angriff der Islamisten und wichtiger Teile des Islam auf die gemeinsamen Werte der westlichen Welt kämpfen.

Doch bedürfe es dazu einer anderen Einstellung vieler Europäer: Sie müssten begreifen, verinnerlichen und demonstrieren, dass jeder Angriff auf französische Juden ein Angriff auf jeden Franzosen sei und jeder Anschlag auf eine jüdische Einrichtung in Dänemark ein Anschlag auf Dänemark insgesamt.

Es darf der Antisemitismus der Muslime und wichtiger Strömungen des Islam in Europa nicht weiter einfach ignoriert oder negiert werden. Es ist ein verheerender Fehler, die Kritik am Islamismus und Islam immer sogleich als Islamophobie oder gar als neuen Antisemitismus zu denunzieren und dieses Feld den rechtsextremen Gruppen zu überlassen. Es ist eine gewaltige polizeiliche und gerichtliche Arbeit nötig, um die unmittelbare Gewalt der Islamisten zu stoppen.

Parallel dazu ist eine noch viel aufwendigere erzieherische Arbeit in den europäischen muslimischen Gemeinschaften nötig, um die vorherrschenden judenfeindlichen und antiwestlichen Haltungen zu beseitigen. Je früher sich die europäische Politik dieser Sache annimmt, desto besser.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

Anmerkung der Redaktion
Unter Berufung auf unsere Forenregeln wurde die Kommentarfunktion zu diesem Artikel deaktiviert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.