Israel vor einem neuerlichen Wendepunkt in seiner Entwicklung

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Israels regierender Premier, Netanjahu, bald wiedergewählt – quasi als republikanischer Gouverneur des 51. US-Bundesstaates.

Heute spricht der israelische Premierminister, Benjamin Netanjahu, bereits zum dritten Mal vor einer gemeinsamen Versammlung des Senats und des Repräsentantenhauses der USA. In der Geschichte der USA wurde diese dreimalige Ehre außer ihm nur dem britischen Premierminister Winston Churchill zuteil. Damit nicht genug: Netanjahu wurde vom republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses eingeladen – ohne vorherige Rücksprache mit dem demokratischen Präsidenten, Barack Obama, und entgegen dessen ausdrücklichem Willen. Damit ist Netanjahu mitten in der US-amerikanischen Innenpolitik gelandet.

Ziel seiner Ansprache ist es eigentlich, die möglicherweise bevorstehende Vereinbarung der Weltmächte mit dem Iran über dessen Atomprogramm zu blockieren. Netanjahu befürchtet, dass die Verträge viel zu schwach seien und einen der Erzfeinde Israels über kurz oder lang zur Atommacht werden lassen könnten. Dieses Anliegen wäre für sich genommen mehr als legitim, hat aber aus zwei Gründen einen üblen Beigeschmack:

Erstens finden in Israel in zwei Wochen Parlamentswahlen statt. Netanjahu befindet sich in der Intensivphase des Wahlkampfes und möchte mit seinem groß aufgezogenen Auftritt vor dem US-Kongress ganz offensichtlich vor dem Publikum daheim als Garant für die Sicherheit und Zukunft Israels punkten.

Zweitens schlägt sich Netanjahu mit dieser Aktion noch deutlicher als schon bisher auf die Seite der Republikaner in den USA. Daher hat sein heutiger Auftritt in Washington viel weitreichendere Folgen: Das Thema Israel, über viele Jahrzehnte ein überparteiliches Anliegen in den USA, droht zu einem innenpolitischen Zankapfel zu werden.

Das tangiert dann natürlich auch die starke jüdische Gemeinschaft in den USA: 80 Prozent der amerikanischen Juden wählen traditionellerweise demokratisch – so stimmten sie zuletzt auch zweimal mehrheitlich für Barak Obama. Das amerikanische Judentum ist traditionell eine der stärksten und homogensten Unterstützer der Demokratischen Partei und andererseits auch Israels.

Wenn aber Israels Premierminister offen gegen „ihren“ Präsidenten agiert, hört sich bei vielen amerikanischen Juden der Spaß auf. So hat sich in den vergangenen Jahren mit der Gruppe J-Street bereits eine zunehmend stärker werdende Formation gegen die Israel-Lobbyisten-Organisation AIPAC gebildet. J-Street tritt ganz offen für eine Friedenslösung mit den Palästinensern ein, während AIPAC als regierungsfreundlich und pro-Netanjahu angesehen wird.

Wir stehen also wieder vor einem Wendepunkt in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Israels während der vergangenen drei Jahrzehnte.

Bis Ende der 1970er-Jahre war Israel noch stark von der zionistisch-sozialistischen Ideologie der Gründerväter des Staates und den Kibbuzim, den Kollektivsiedlungen, dominiert. Nicht zuletzt durch Politiker wie Netanjahu, der den Großteil seiner Ausbildung in den USA genoss, sowie weitere mit den USA verbundene Politiker und Berater hat sich Israel zu einem höchst erfolgreichen und innovativen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsstandort entwickelt.

Das Pro-Kopf Einkommen Israels ist heute höher als jenes von Italien. Das Wirtschaftswachstum betrug zuletzt, für westliche Verhältnisse, astronomische 7,2 Prozent. Der Schekel – die Landeswährung – steht unter einem ähnlich starken Aufwertungsdruck wie der Schweizer Franken. Darüber hinaus könnte Israel aufgrund gewaltiger Gasvorkommen vor der Küste bald zum Norwegen des Mittelmeers werden.

Von den europäischen Wurzeln des Zionismus aber entfernt sich Israel immer mehr und wird – dem Traum des Wieners Theodor Herzls entsprechend – zunehmend zu einem „normalen“ Staat. Wohl aber nicht so sehr im Sinne des Erfinders, sondern eher in Richtung eines 51. Bundesstaates der USA – mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.