Europa und die Flüchtlinge: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben

Es fehlen einerseits der Wille und die Mittel, um weltpolitisch einzugreifen. Andererseits herrscht in den einzelnen Ländern, auch in Österreich, peinlicher Kleingeist.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie wichtig ein starkes und geeintes Europa wäre, dann ist es der Strom an Flüchtlingen, der Europa derzeit erreicht. Afrika und der Nahe Osten sind quasi der Hinterhof Europas und überall dort finden seit einigen Jahren fürchterliche Tragödien statt. Mit hunderttausenden Toten und Millionen an Flüchtlingen. Weder die EU noch die europäischen Großmächte wollen beziehungsweise können überhaupt eingreifen. Nicht einmal die Durchsetzung von Schutzzonen für Flüchtlinge zum Beispiel in Libyen oder Syrien steht zur Diskussion oder wäre militärisch machbar. Lieber ließe man in bewährter Manier die USA eingreifen und kritisierte diese dann aus der ersten Reihe fußfrei.

Doch diese tun nicht mehr wie bisher. Die USA unter Präsident Barack Obama haben jetzt ihre Rolle gewechselt. Vom Erdöl des Nahen Ostens unabhängig, wendet sich Amerika zunehmend dem pazifischen Raum zu und überlässt es Europa, sich um die Krisenherde in seiner Nachbarschaft zu kümmern. Zu dumm, dass Europa so gar nicht dafür gerüstet ist.

Hierzulande spielt man lieber die Moralapostel, spricht sich verlogen für Frieden und gegen Krieg aus und übertrumpft sich bestenfalls gegenseitig im Geschäftemachen mit den übelsten Regimen dieser Welt, wie zuletzt mit dem Iran. Darin ist Europa Weltmeister und in dieser Mannschaft sind die Österreicher die Abstauberkönige schlechthin.

Dieses Mal geht aber die Rechnung nicht auf. Der größte Flüchtlingsstrom seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich in Richtung Europa in Bewegung gesetzt und jetzt könnten die europäischen Länder endlich ihre moralische Überlegenheit unter Beweis stellen. Dabei: Von welchen Zahlen sprechen wir denn? Je nach Zählung sind im Jahr 2015 bisher 200.000 bis 250.000 Flüchtlinge nach Europa gekommen.

Eine gewaltige Zahl, aber bei einer Gesamtbevölkerung von etwas über 500 Millionen Einwohnern allein in der EU sind das gerade einmal gerundete 0,05 Prozent.

Das reicht schon, um die politischen Systeme in Europa ins Wanken zu bringen? Selbstverständlich können wir in Europa nicht alle Flüchtlinge aus den Krisengebieten aufnehmen und unsere Grenzen nicht für eine Massenimmigration öffnen. Darum geht es aber ohnehin nicht.

Kleinlich auch die ewig wiederkehrende Behauptung, es handle sich vor allem um sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Dies ist obendrein falsch. Über 60 Prozent der Flüchtlinge stammen aus Kriegsgebieten wie Syrien, Afghanistan und Eritrea. Sie haben Anrecht auf Asyl in Europa. Dieses sollten wir ihnen gewähren, ebenso wie eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung. Wenn wir in Europa nicht nur einen Funken Moral, sondern auch noch Verstand hätten, dann würden wir diese Menschen auch so schnell wie möglich integrieren und in den Arbeitsprozess einbinden.

Denn während zig Millionen Flüchtlinge in Lagern in der Türkei, dem Libanon und anderen Ländern im Nahen Osten und Afrika verbleiben, sind viele der Menschen, die es zu uns schaffen, bestens ausgebildet, mehrsprachig und entschlossen, sich eine neue Existenz im Westen aufzubauen. Geben wir ihnen hier nicht die Chance dazu, dann entsteht wieder eine negative Auswahl: Die Tüchtigen und die Arbeitsfähigen werden bei erster Gelegenheit in Länder wie die Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien auswandern – die anderen jedoch werden in unseren Sozialsystemen hängen bleiben.

Dies alles, während die Politiker in Europa angesichts der Flüchtlinge und der populistischen Hetzer um ihr politisches Überleben bangen. Unseren Politikern sei jedoch das wunderbare Sprichwort ins Stammbuch geschrieben: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2015)

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