Grundlegende Neugestaltung der Politik in Österreich ist überfällig

Es gibt keine Zeit mehr für Wischiwaschi-Reden und fürs Herumlavieren. Der Souverän – sprich das Wahlvolk – kann und will das nicht mehr hören und sehen.

Bei der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl wie auch beim Umgang mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ist vor allem eines gefragt: mutiger Gestaltungswille. Denn nur so ist der Kampf gegen die populistischen Bewegungen zu gewinnen.

In einem Workshop mit der Forschungsabteilung eines internationalen Pharmakonzerns erarbeiteten wir vor Kurzem folgende Vorgangsweise: Ab sofort würden keine konventionellen Medikamentenprojekte mehr zur Präsentation im Leitungsgremium zugelassen. Er wolle sich nicht mehr mit der zehnten Variation eines Blutdrucksenkers beschäftigen, erklärte der Manager. Vielmehr sollten seine Leute ihn mit völlig neuen Ideen, quergedachten Zugängen für neue Medikamente herausfordern. Auch auf die Gefahr hin, dass damit natürlich die Quote an Misserfolgen steigen würde. Es ginge ihm aber um die Neugestaltung pharmazeutischer Behandlungsmethoden.

Neugestaltung – das ist das Stichwort zu den aktuellen politischen Entwicklungen. Was könnte das zum Beispiel bei der Wiederholung der Bundespräsidentenwahl bedeuten?

Nachdem das Ergebnis der Stichwahl ja nicht angefochten wurde, ist die Wahl von Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidenten zu respektieren. Alle Parteien und Unterstützungsgruppen, auch die FPÖ, sollten auf einen Wahlkampf verzichten und dazu aufrufen, die Wahl von Van der Bellen zu bestätigen. Wer Van der Bellen gewählt hatte, sollte dies nochmals tun, wer Norbert Hofer gewählt hatte, sollte eine leere Stimme abgeben.

Kein Wahlkampf, kein unnötiges Verschwenden weiterer Wahlkampfgelder, kein Wiederanfachen eines Lagerwahlkampfes. Festsetzung des Wahltermins zum frühestmöglichen Zeitpunkt und Sicherstellen, dass alle gesetzlichen Vorgaben penibel eingehalten werden. Causa finita – Ende der Diskussion.

Es gibt fürwahr viel wichtigere Probleme, die auf eine Lösung durch die österreichische Politik warten. Wir haben mit Christian Kern einen neuen Bundeskanzler, der einen Neuanfang versprochen hat. Ein solcher ist in der Tat überfällig – und auch hier wird es wieder um mutigen Gestaltungswillen gehen.

Die Themen sind allen wohlbekannt: Zurückfahren der überbordenden Bürokratie, Entrümpelung der völlig unüberschaubar und unerträglich gewordenen Flut an Gesetzen sowie Verordnungen und ersatzlose Abschaffung einer Verwaltungsebene in Österreich. Eine deutliche Reduktion der Steuer- und Abgabenquote sowie echte und mutige Reformen im Bildungswesen und im Sozialstaat – um nur die wichtigsten Punkte zu nennen.

Christian Kern wird nicht sehr viele Chancen bekommen. Er muss bis Ende des Sommers mutige, ja sogar revolutionäre Reformvorschläge zu den genannten Themen präsentieren. Schafft er das und zieht die ÖVP nicht mit, dann muss er sich die Legitimierung über eine Neuwahl holen.

Kann Kern die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, dann hat die ÖVP zu handeln. Sebastian Kurz übernimmt die Führung der ÖVP und hat dann seinerseits ein Reformprogramm zu präsentieren und damit in eine Neuwahl zu gehen.

Aber eines geht sicher nicht mehr: Rücksichtnahme auf Kammern, Gewerkschaften, Regionalpolitiker und Lobbyisten, die allesamt nur ihre eigenen, oft ganz persönlichen Interessen im Auge und den Blick auf das Gesamtinteresse Österreichs verloren haben. Es gibt keine Zeit mehr für Wischiwaschi-Reden, fürs Herumlavieren und dann die Präsentation der bereits zehnten Variation eines Blutdrucksenkers.

Der Souverän – sprich das Wahlvolk – kann und will das nicht mehr hören und sehen. Es geht um eine grundlegende Neugestaltung der österreichischen Politik. Schaffen die bisher tonangebenden Parteien diese Revolution nicht von innen heraus, dann sind wir dazu verdammt, von populistischen Parteien des rechten oder linken Spektrums in dunkle Zeiten der Unfähigkeit und der politischen Polarisierung geführt zu werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2016)

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