Steht es schlecht um Österreich? Oder wird nur gesudert?

Wie steht es tatsächlich um unser Land? Jüngste Analysen aus dem Ausland stimmen bedenklich. Aber warum gewährt die Politik nicht mehr Freiheit?

Es war immerhin die renommierte deutsche Bertelsmann Stiftung, die vor Kurzem Österreich attestierte, es würde mit der Zukunftsfähigkeit seines politischen Systems im internationalen Vergleich mittelmäßig und in manchen Bereichen sogar schlecht abschneiden. Auch wenn so mancher diese deutsche Denkfabrik als neo-liberal oder sonst wie abqualifizierte, die angeführten Zahlen sprechen für sich: Aufgrund von 136 Indikatoren liegt Österreich auf Platz 16 aller OECD-Länder und Staaten der Europäischen Union, klar hinter der Schweiz (Rang 4) und Deutschland (Rang 6).

Auch die führende schweizerische Tageszeitung „Neue Zürcher Zeitung“ konzediert Österreich, noch immer zu den reichsten und gesegnetsten Ländern Europas zu zählen. Doch den Menschen in Österreich sei das Vertrauen abhandengekommen, dass die Politik und die tragenden Institutionen des Landes noch in der Lage seien, die wichtigsten Zukunftsprobleme zu lösen. Es ginge also um die Frage, ob Österreich auch in zehn oder zwanzig Jahren noch ein reiches und lebenswertes Land sein werde.

Doch haben wir Österreicher nicht schon immer gejammert, fragte mich neulich ein Journalist in einem Interview? Ja, wie heute ist mir in Erinnerung, wie unsere Lehrerin für Buchhaltung und Rechnungswesen uns Schülern in wenigen Sätzen auseinandersetzte, wieso das II. Abgabenänderungsgesetz unter dem damaligen Finanzminister, Hannes Androsch, Österreich binnen zwei, drei Jahren in den Abgrund führen würde.

Das war im Jahr 1977. Tatsächlich hat man in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten schon so manche Zeit erlebt, in der es düster aussah. Dennoch lassen sich deutlich zwei Unterschiede ausmachen:
Erstens ist die tiefe Frustration in der Mitte der Gesellschaft angelangt. War diese früher vor allem das Prärogativ der Extremen am rechten und linken Rand, so hat heute die Enttäuschung und Perspektivlosigkeit die Mittelschicht, die große Zahl der klein- und mittelgroßen Unternehmen, die Selbstständigen und nicht zuletzt die große Mehrheit der Jugend in unserem Land Österreich erfasst. Es geht immer wieder um die gleichen Themen: viel zu hohe Steuern und Abgaben, ein erstickendes Ausmaß an Gesetzen und Regulierungen, ein aus den Fugen geratendes Pensionssystem und ein immer unzureichender werdendes Bildungssystem.

Zweitens schaffen es die Regierenden nicht, diese, zugegeben inzwischen gewaltig groß gewordenen, Baustellen wirklich und grundlegend anzugehen. Vorschlag: Für die nächsten Jahre sollten Politiker jedenfalls die folgenden Begriffe tunlichst aus ihrem Wortschatz streichen: „Neue oder höhere Steuer“, „Gebühren- oder Abgabenerhöhung“, „Ausdehnung des Gewerberechts“, „zusätzliche Arbeitszeitregelungen“, „ausreichend hohes Pensionsantrittsalter“, „keine Liberalisierungen“ und dergleichen mehr.

Mitunter muss man ja im österreichischen Alltag nachgerade depressiv werden. Aktuelles Beispiel: ein sonntäglicher Einkauf in einem der geöffneten Supermärkte. Hunderte Menschen drängen sich in dem gar nicht so kleinen Verkaufslokal, als ob aus irgendeinem Grund Hamsterkäufe zu tätigen wären. An den acht geöffneten Kassen steht man als Kunde gute zwanzig Minuten angestellt. Soll das die weltoffene, urbane und touristenfreundliche Großstadt Wien sein?

Eine solche kann man aber nicht wie eine Kolchose führen und auch nicht wie ein katholisches Bergdorf, in dem man die Einwohner zum sonntäglichen Gang in die Kirche bewegen möchte. Geben Sie den Menschen in Österreich mehr Freiheit und Selbstverantwortung – sehr geehrte Damen und Herren Politiker!

Zum Autor

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

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