Wer zu Jauffrets Buch „Claustria“ greift, hat reinen Dreck in der Hand

Mit dem schäbigen Schlüssellochblick auf reale Opfer, gewürzt mit dem modrigen Präjudiz gegen Österreich, versuchen Autor und Verlag, niedrigste Triebe zu locken.

Im Englischen werden Bücher klug nach zwei Kriterien eingeteilt: Fiction und Non-Fiction. Die Ersteren sollen im weitesten Sinn unterhalten, sie sprechen vornehmlich das Gemüt an, entwerfen eine imaginierte Welt, in die sie verführen und die manchmal eng, manchmal entfernt mit der Realität verbunden ist. Die Letzteren sollen im weitesten Sinn bilden, sie sprechen vornehmlich den Verstand an, vermitteln interessante Betrachtungen auf die Dinge und Geschehnisse der Welt.

In beiden Kategorien gibt es zeitlose Kunstwerke genauso wie armselig schlechte Bücher. Aber selbst im zweiten Fall weiß man, dass es sich um Schund aus dem Bereich der Fiction oder um Unsinn aus dem Bereich der Non-Fiction handelt.

Befremden aber kommt auf, wenn ein heftig beworbenes Buch in keine der beiden Kategorien fällt und zugleich abgrundtief mies ist. Aktuell trifft das auf das Elaborat von Régis Jauffret – „Claustria“ – zu. Jauffret maßt sich an, über den erschütternden Kriminalfall von Amstetten literarisch zu richten. „Dieses Buch ist Fiktion“, schreibt er als ersten Satz, um ein für alle Male klarzustellen, dass er keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt.

Damit ist er fein raus, wenn er es in den nachfolgenden 520Seiten doch tut. „Dieses Werk ist ein Roman, die schöpferische Frucht seines Urhebers“, behauptet er, obwohl den nachfolgenden 520Seiten alle Zutaten eines Romans, gar einer schöpferischen Leistung fehlen, sondern sich bloß im Stil einer reißerischen Reportage ein Klischee an das andere reiht und eine schiefe Metapher auf die nächste folgt. Hier ist nicht ein Atom „schöpferischer Frucht“ zu schmecken, bloß eine ad nauseam wiederholte Variation modriger Vorurteile, die man längst zur Genüge kennt.

Keiner der Figuren, die Jauffret aus der Wirklichkeit stiehlt, vermag er ein menschliches Antlitz zu verleihen. Sie sind alle Larven von Verbrechern – vom Ich-Erzähler abgesehen, der sich in eine makabre Welt geworfen sieht, nicht daran zweifelt, „an irgendeiner Straßenecke Hitler zu begegnen“, und den Anwalt des Verbrechers sagen lässt, es käme, würde man im ganzen Land DNS-Tests durchführen, heraus, „dass eine beträchtliche Anzahl unserer Mitbürger die Frucht eines inzestuösen Verhältnisses ist. Das ist eine typisch österreichische Angelegenheit.“

Durchtrieben rechnet Jauffret selbstverständlich damit, dass jeder, der sein Machwerk liest, was darin steht, für bare Münze nimmt. Um aber ja nicht von den Opfern des Kriminalfalls von Amstetten belangt werden zu können, versetzt er die Ausgabe seines Tatsachenberichts in das Jahr 2055. Da sind bis auf einen alle vom „Kellervölkchen“ – so nennt er diejenigen, die er durch seine Sudelei erneut mitleidlos demütigt – schon längst tot. Und in Amstetten, dem „grauen Kaff“, wird das Haus des Verbrechers gesprengt.

Was bezweckt der Verlag, der die deutsche Übersetzung herausbringt: Mit einem Roman das Gemüt zu rühren? Sicher nicht, dafür fehlen alle Zutaten. Mit einer Schilderung der Wahrheit näherzukommen? Sicher nicht, dafür ist der Autor zu unverlässlich und zu oberflächlich. Mit dem schäbigen Schlüssellochblick auf reale Opfer, gewürzt mit dem billigen Präjudiz gegen das eigene Land, die bei der Leserschaft vermuteten niedersten Triebe zu locken? Das ist wohl der Fall. Wer zu diesem Buch greift, muss sich danach gründlich die Hände waschen.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2012)

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