Vertreter der Rekonstruktion und der Konstruktion von Wirklichkeit

Mit dem 85-jährigen Walter Thirring wurde vor Kurzem verdientermaßen einer der Großen der theoretischen Physik mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring ausgezeichnet.

Eingeweihte nennen Walter Thirring trotz seiner 85 Lebensjahre immer noch „den jungen Thirring“. Denn sein Vater, der knapp 89-jährig 1976 verstorbene Hans Thirring, gilt als „der alte Thirring“. Beide sind herausragende theoretische Physiker, prägende Lehrer an der Universität Wien. Und ihre Punzierung mit den Worten „jung“ und „alt“ rührt wohl von der tiefen Verehrung ihrer großen Schar von Schülerinnen und Schülern her.

Wenige Tage vor seinem 86.Geburtstag erhielt Walter Thirring nun den von der Österreichischen Ärztekammer gestifteten Paul-Watzlawick-Ehrenring. Es trifft sich gut, dass zu diesem Anlass die Namen der beiden Geistesgrößen Watzlawick und Thirring in einem Atemzug genannt wurden. Denn die Grenze zwischen der Rekonstruktion der Natur durch die theoretische Physik und der Konstruktion der Natur, die in den von Watzlawick herausgegebenen Beiträgen zum Konstruktivismus unter dem Titel „Die erfundene Wirklichkeit“ postuliert wurde, ist fließend.

Entsteht die Welt aus einer Formel? Es ist möglich, dass aus dem Nichts, aus dem Vakuum, immer wieder Universen entstehen, bestätigte Thirring bei der Preisverleihung eine an ihn gerichtete Frage, weil diese ja – mit der Gesamtenergie null, die sie haben – „billig in der Produktion“ seien. Einen Gedanken wie diesen hatte er als wirklich „junger Thirring“ einst Albert Einstein gegenüber geäußert. Er schreibt darüber: „Die Reaktion von Einstein war enttäuschend, denn er glaubte nicht an die Quantentheorie. Zunächst wollte er nicht wahrhaben, was ich sagte, und meinte, ich spreche vom Kochen neuer Elemente in den Sternen. Als ich erwiderte, dies wäre keineswegs der Fall, sondern ich spräche vom Entstehen von Teilchen aus dem Nichts, war er schockiert. Mit manchen Paradoxa der Quantentheorie hatte er sich abgefunden, aber das wäre ihm zu radikal. Ich habe also den Pegasus meiner Fantasien wieder eingefangen und vertraute derlei Ideen erst 15 Jahre später meinen damaligen Assistenten Roman Sexl und Helmuth Urbantke an, welche eine der ersten seriösen Arbeiten über diese Frage geschrieben haben. Seither ist die Zahl solcher Untersuchungen zur Legion angeschwollen.“

Dem erkenntnistheoretischen Idealismus mit George Berkeley als seinem Ahnherrn und mit Watzlawick als verständnisvollem Förderer des Konstruktivismus sind solche, den Realisten Einstein einst schockierende Vorstellungen nicht fremd.

Die Außenwelt existiert, so die Behauptung, nicht unabhängig vom Bewusstsein, sondern nur in Beziehung zu einem erkennenden Ich. Vielleicht mag darin des Rätsels Lösung auf Eugene Wigners Frage verborgen sein, warum die Schöpfung einem mathematischen Bauplan folgt.

Doch selbst wenn sich Walter Thirring nicht so exponiert ins philosophische Terrain begibt, seine von mathematischer Strenge geprägte Sicht auf die Natur zeichnet ihn aus. So sehr, dass sein ihm freundschaftlich verbundener Kollege Edmund Hlawka ihn gar nicht als Physiker, sondern als Mathematiker sah. Vielleicht ist die Bezeichnung „alter“ und „junger Thirring“ eine Erfindung Hlawkas gewesen, nannte er doch Anton Zeilinger, auch er ein Stern erster Klasse auf dem Himmel der Physik, scherzhaft einmal wegen ähnlicher Statur, Habitus und ähnlichen geistigen Gewichts den „jungen Boltzmann“.


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Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2013)

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