Nicht in einer Demokratie, in einer Oligokratie leben wir

Wahlen stellen Demokratie im buchstäblichen Sinn des Wortes fast nie her. Doch sie dienen dazu, die Macht der wenigen zeitlich zu beschränken.

Fulminant war der Sieg von Andrea Merkel. Aber ein Wermutstropfen bleibt. Um wie viel wäre sie wohl glücklicher, wenn ihre CDU/CSU um mickrige 0,3 Prozentpunkte weniger Zuwachs erhalten hätte – statt sich über einen Zuwachs von 7,7 nur über einen von 7,4 Prozentpunkten zu freuen, macht kaum einen Unterschied – und dafür die FDP mit einem Mehr von 0,3 Prozentpunkten über die Fünfprozenthürde gehüpft wäre? Dieser marginale Unterschied ergäbe für die Bildung der Regierung eine fundamental andere Ausgangslage. „Der Wähler“ (weiblich wie männlich), so sagt man, wollte es nicht.

Rein rechnerisch betrachtet hat die Bundestagswahl in Deutschland ergeben, dass die linken Parteien zusammen die Mehrheit stellen. Man könnte auch behaupten: 58,5 Prozent der Wahlberechtigten, die gültige Stimmen abgaben, und rund 70 Prozent aller Wahlberechtigten insgesamt votierten nicht für Angela Merkel. Und zählt man die Prozente der Stimmanteile von SPD, Grünen und Linken zusammen, die prononciert gegen Angela Merkel und ihre christdemokratischen und christlichsozialen Parteien Stellung beziehen, kommt man immer noch auf 42,7 Prozent, was mehr als die 41,5 Prozent für die CDU/CSU ist.

Aber das sind, realpolitisch betrachtet, groteske Argumente. In Wahrheit bleibt Angela Merkel die unumstrittene Siegerin dieser Wahl. Sie wird die Gestaltung der nächsten vier Jahre in Deutschland und damit auch in Europa maßgeblich bestimmen.

Eine der Lehren, die man daraus auch für die nun anstehende Wahl in Österreich ziehen kann, ist, übertriebene Ideale demokratischer Entscheidungen zurechtzustutzen: Es ist einfach falsch, dass es in der Hand des Wählers liegt, wie die künftige Regierung im Lande aussehen wird. Dies entscheidet „der Wähler“ in Wahrheit gar nicht.

Eine demokratische Entscheidung in Reinkultur erfordert folgende Voraussetzungen: Erstens: Es stehen bloß zwei Alternativen zur Auswahl. Zweitens: Es besteht von vornherein Einigkeit, dass jene Gruppe, die bei der Wahl zwischen den beiden Alternativen verliert, mit der Entscheidung des „Demos“ leben kann, wobei der „Demos“ die zur Wahl berechtigten Personen bezeichnet. (Auch darüber, wer das sein soll, müsste zuvor entschieden werden – nur: von wem?) Drittens: jedes Mitglied des „Demos“ ist sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst.

Bei der Nationalratswahl am Sonntag ist keine dieser Voraussetzungen gegeben. Wer zum Beispiel SPÖ oder ÖVP wählt, kann damit entweder zum Ausdruck bringen, er wünsche sich, dass die von ihm gewählte Partei die Koalition mit der anderen beibehält, oder aber, dass die von ihm gewählte Partei so stark wird, dass sie das Wagnis anderer Koalitionen eingeht – doch mit welcher anderen Partei lässt sich aus dem Kreuz des Wählers nicht erschließen.

Sowohl bei Regierungs- als auch bei Oppositionsparteien gilt im Wahlkampf die alte Regel der Theaterdirektoren: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. An welche der Versprechen die Parteien sich bei einer Regierungsbildung erinnern werden, und welche von ihnen sie in den Verhandlungen zu vergessen bereit sein werden, weiß man beim Ankreuzen nicht.

Bei den zur Wahl stehenden Personen ist man dann der Willkür nachfolgender, wie es heißt, „nach reiflicher Überlegung in den Gremien getroffener Entscheidungen“ ausgeliefert. Denn man wählt keine Menschen, sondern Parteien.

Nicht von einer Demokratie, sondern von einer Oligokratie, von einer Herrschaft der wenigen, die sich zum politischen Geschäft berufen fühlen, sollte man sprechen. Allerdings – und dies ist der einzige, aber zugleich entscheidende Vorteil von Wahlen – ist diesen wenigen die Macht nur für eine relativ kurze Zeit verliehen. Wahlen vermögen zwar nicht, die Besten zum Regieren zu berufen, aber sie machen den Herrschenden zumindest bewusst, dass ihnen nach ein paar Jahren die Macht entrissen wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:
Rudolf Taschnerist Mathematiker und Betreiber des math.space im quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2013)

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