Das böse Erwachen aus dem Traum von der besseren Zukunft

Die Geschichte bleibt ein unentwirrbares Rätsel, das macht sie so faszinierend und so spannend: Anmerkungen zu Gerhard Jelineks Buch „Schöne Tage. 1914“.

Nichts verlockt und bezaubert uns mehr als unübersichtlich verflochtene Rätsel. Am reizvollsten sind jene, die anfangs gar nicht so vertrackt zu sein scheinen, sich bei genauer Betrachtung jedoch als schier unlösbar erweisen. Man nähert sich ihnen von allen denkbaren Seiten, gewinnt dabei immer neue Einsichten, gelangt aber nicht zur endgültigen Lösung. Wirklich betörende Rätsel geben ihr Geheimnis nicht preis. Darum fasziniert Geschichte. Sie ist ein solches unentwirrbares Rätsel.

Hegel versuchte dem Rätsel beizukommen, indem er postulierte, die Weltgeschichte sei „ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“. Der vom Weltgeist vorangetriebene historische Prozess verläuft, so deutet man gerne Hegels Gedanken, von der orientalischen Epoche, in der nur der Despot als Einziger frei ist, über die griechisch-römische Zivilisation, in der Bürger der Oberschicht als Einzelne frei sind, bis zur modernen Welt, in der schließlich alle frei sind.

Aber niemand mehr setzt heute auf ein so einfaches lineares Modell. Ja man hat überhaupt den Glauben daran verloren, dass historische Prozesse allein vom materiellen, vom sozialen, vom geistigen Umfeld gelenkt werden. Einzelne machen Geschichte – wobei sie von ihrem Denken wie von ihrem Empfinden, von Äußerlichkeiten wie von Pflichten und von vielem anderem mehr geleitet werden.

Wir dürfen vor allem deshalb nicht hoffen, das „Geschichte“ genannte Rätsel lösen zu können, weil wir, aus der Sicht der Nachgeborenen, die „Torheit der Regierenden“ nie verstehen werden. Wie soll man begreifen, dass Regierungen und Machthaber eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft? Obwohl sie sich dessen bewusst sind und obwohl sie vernünftige Gegenmaßnahmen hätten ergreifen können.

Selbstüberhebung, Starrsinn, Einfalt oder blanker Unverstand treiben die Regierenden dazu, Ursachen historischer Ereignisse zu schaffen. Es sind Ursachen, welche selbst beim leisesten Anlass die Verursacher in die Katastrophe schlittern lassen können. Es mag dabei ein Gedanke wie dieser gewesen sein, der den Wiener Journalisten Gerhard Jelinek dazu veranlasste, das Buch „Schöne Tage. 1914“ zu schreiben.

In dem Buch werden tagebuchartig banale und aufregende, eher private, aber auch öffentlichkeitswirksame Geschehnisse des Jahres 1914 aneinandergereiht, beginnend mit der Silvesternacht und endend mit dem 3.August, als plötzlich der große Krieg ausbrach und keiner der Zeitgenossen genau wusste, warum.

Denn im Kaleidoskop der von Jelinek mit großer Sorgfalt geschilderten Ereignisse gab es so manche, die den Krieg hätten veranlassen können, sie taten es aber nicht. Dass es das eine Ereignis vom 28.Juni sein sollte, empfand in den herrlichen Sommertagen dieses Jahres kaum einer als zwingend. Es war es auch nicht.

Lässt man sich von Jelinek dazu verführen, in die Zeit einzutauchen, die in seinem „Tagebuch“ so lebensnah, so warmherzig und so einnehmend geschildert wird, dass man sich in sie hineinversetzen kann, so wird Geschichte vollends rätselhaft. Wir werden ihre Kapriolen nie verstehen.

Das Beunruhigende an Gerhard Jelineks Buch aber ist, wie mühelos es ihm gelingt, uns in die Zeit knapp vor Beginn der Katastrophe des 20.Jahrhunderts zu versetzen. Natürlich leben wir heute ganz anders als damals. Aber in manchen Aspekten, womöglich in den die Geschichte entscheidend bestimmenden, ähneln wir den Menschen vor hundert Jahren frappant.

Die Zukunftspropheten unserer Tage behaupten: „An barbarische Rückfälle, wie Kriege zwischen den Völkern Europas, glaubt man so wenig wie an Hexen und Gespenster. Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft.“ Genauso war es damals, in den „schönen Tagen 1914“. Und das Wort über diese Tage stammt von Stefan Zweig.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.