Zur anscheinend endenden Epoche der Verklärung von Demokratie

„Schützen wir die Demokratie vor ihren Verehrern!“, ruft Alexander Grau im letzten „Cicero“ und stößt ziemlich sicher auf taube Ohren.

Demokratisierung aller Lebensbereiche!“ Diese Parole war die von Bruno Kreisky erfundene österreichische Version des zuvor, in den späten 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, erfundenen Wortes von Kreiskys Freund Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen!“ Am Ende seiner Regierungserklärung verkündete Brandt: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Dies wurde vor nun fast genau 45 Jahren gesagt. Es lohnt zu Beginn eines Jahres, das an die vor rund 200 Jahren von Wien aus erfolgte Restaurierung Europas erinnert, die vor 100 Jahren endgültig zerbrach, über eine Epoche von 50 Jahren der Verklärung von Demokratie– oder was man dafür hält – nachzudenken. Zumal diese Epoche anscheinend einem Ende entgegenzugehen droht: aufgrund der Aushöhlung der Demokratie auf der einen Seite und der Geringschätzung der Demokratie auf der anderen Seite.

Es war jedenfalls blauäugig, als George W. Bush fünf Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs verkündete, die amerikanischen Soldaten hätten „dem irakischen Volk geholfen, dass aus den Trümmern von Saddam Husseins Tyrannei eine junge Demokratie auferstand“. Demokratie ist kein attraktiver Exportartikel. Nicht einmal dann, wenn er scheinbar von Aufständischen des Volkes im Lande auf Transparenten verlangt wird. Dies müssen auch jene bekennen, die vom sogenannten Arabischen Frühling erhofft haben, in den betroffenen Staaten möge Demokratie zu walten beginnen, und von der Realität bitter enttäuscht wurden. Wer auch immer die Macht in den Ländern Arabiens, aber auch in den ehrgeizigen oder aufstrebenden Staaten wie Russland oder China beanspruchen mag: Der Idee, alle Lebensbereiche zu demokratisieren, werden diese Potentaten mit äußerster Skepsis begegnen.

Zumal sie an Beispielen von Staaten des Westens belegen können, dass mit einer solchen Entwicklung auf lange Sicht eine Schwächung nicht nur der eigenen Macht, sondern auch des Gemeinwesens droht.

Vor allem dann, wenn Demokratie missverstanden wird: wenn sie nicht als ein Regelsystem begriffen wird, mit dem man auf gewaltfreie Weise den Wechsel von Regierenden vollziehen kann. Wenn sie nicht dazu dient, die Herrschaft über die einzelne Person so weit zu beschränken, wie es gerade nötig ist, um die Freiheit dieser Person im höchstmöglichen Maß zu sichern.

In Anspielung auf Willy Brandts Wort proklamierte Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung vor fast neun Jahren: „Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“ Ob von denjenigen, die unentwegt Lobgesänge auf die Demokratie anstimmen, begriffen wurde, dass beide Worte, recht verstanden, dasselbe besagen, darf man bezweifeln.

Denn die falschen Verfechter der Demokratie sehen diese nicht als Mittel zur Beschränkung von Macht, sondern im Gegenteil als Machtinstrument, mit dem die eigenen Vorstellungen zum Durchbruch gelangen sollen. Deren Sprache enthüllt es: Sie reden von „demokratischen Werten“, von einer „demokratischen Kultur“, von einem „demokratischen Menschenbild“, von einer „demokratischen Weltanschauung“. All das gibt es gar nicht, aber es klingt so gut – und wehe dem, der damit nicht konform zu gehen bereit ist. So gesehen ist es in der politischen Debatte der wirksamste Ratschlag, den Gegner, dem man sachlich nichts vorzuwerfen vermag, mit dem Vorwurf mundtot zu machen, er sei schlicht „undemokratisch“.

Sobald aber alles, was einem gefällt, „demokratisch“ geworden ist, hat das Wort Demokratie seinen Sinn verloren. Das verheißt nichts Gutes. Denn die Chance, dass Demokratie wieder den ursprünglichen Sinn gewinnt, ist gering. Ebenso klein wie die Aussicht, wirtschaftlichen Verwerfungen mit Mitteln zu begegnen, die der Mehrheit des Wahlvolks genehm sind. So bleibt die Angst vor dem Volksverführer, der unter dem Deckmantel „Demokratie“ die ganze Herrschaft an sich reißt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2014)

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