Wer auf das Kreuz blickt, sieht bloß ein Mahnmal irdischer Grausamkeit

Zur immer wieder aufflammenden Debatte, ob Kruzifixe weiter im öffentlichen Bereich einen Platz haben sollten: Drei Missverständnisse sind aufzuklären.

Die Karwoche, zumal der morgige Karfreitag, sind Anlass genug, über die immer wieder geführte Debatte über Kruzifixe im öffentlichen Bereich nachzudenken. Gekennzeichnet ist die Auseinandersetzung durch Missverständnisse, die in manchen von uns so tief verankert sind, dass es schwerfällt, ihrer Herr zu werden.

Das erste Missverständnis geht von der Annahme aus, im Kruzifix sei die Botschaft Jesu an die Menschheit, sit venia verbo, festgenagelt. Obwohl man anhand von einigen Zitaten aus den Evangelien die Gültigkeit dieser Annahme herauszulesen vermag, trifft sie dennoch nicht zu. Denn diese Zitate sind erst aus der Reflexion historischer Ereignisse entstanden, die sich viel später eingestellt haben – allen voran die Zerstörung des Tempels und die Diaspora.

Die ursprüngliche „gute Botschaft“ hat mit dem Kreuz gar nichts zu schaffen. Sie kündet das unverzügliche Hereinbrechen der Gottesherrschaft an. Jahrzehnte, ja Jahrhunderte warteten fromme Juden darauf und eben jetzt, das ist der Kern der Heilsbotschaft Jesu, wird sie sich manifestieren.

Der historische Jesus dürfte bis knapp vor seinem letzten Atemzug unbeirrbar an die unmittelbare Ankunft des Messias, des Retters Israels, geglaubt haben. Sogar dann noch, als er als Verbrecher verurteilt am Pfahl hing, die Arme weggestreckt wie ein antiker Orant, die Handwurzelknochen durchbohrt und ans Holz gebannt. Erst als er einsah, dass sich kein Retter zeigen würde und er dem Tod unabwendbar ausgeliefert war, rief er, von tiefster Verzweiflung und bitterster Enttäuschung erfüllt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Aus der Erfahrung seiner Jünger, dem vom Tod Auferstandenen begegnet zu sein, ist es erklärlich, dass man seine Hinrichtung überhöht darzustellen versuchte. Vor allem bemühte man sich um eine Erklärung dieses grauenvollen Ereignisses, und man klammerte sich an haarsträubende Deutungen: Es sei ein Erlösungsakt des himmlischen Vaters, es sei ein Opfer seines Sohnes, stellvertretend für die sündige Menschheit. Doch all das passt vorn und hinten nicht zusammen.

Wer das Kreuz Jesu erklären zu können glaubt, verharmlost seinen Schrecken. Die frühen Christen hätten es auch nie als Symbol ihres Glaubens gebilligt. Es weist nicht auf Gott, sondern auf das Diesseits mit all seinen absurden Abgründen. So gesehen, und das ist das zweite Missverständnis, ist es gar kein religiöses, sondern ein profanes Symbol.

Kaiser Konstantin, vom Spruch „In hoc signo vinces“ beflügelt und unter dem Zeichen des Kreuzes siegreich, machte es der Kirche zum Danaergeschenk. Es war nicht mehr Symbol des Galgens in der Antike, aber es blieb profan.

Einige Jahrzehnte später erkannte der heilige Augustinus hellsichtig, dass die Kirche, von Konstantin verführt, in ein unauflösbares Dilemma geriet: Wie kann die Kirche, die Jesu Botschaft zu verkünden beansprucht, sich so gefestigt in ein politisches System eingliedern, ja es sogar so zu dominieren versuchen, als ob es die Gottesherrschaft nie geben werde?

Wenn es sie aber gibt, dann ist sie bestimmt kein politisches Ereignis, wie manche fromme Juden zur Zeit Jesu gehofft haben, möglicherweise sogar der historische Jesus selbst, sondern ein existenzielles Geschehen. Dessen nur der begnadete Einzelne teilhaftig werden kann. Allen voran, so verkünden es die Evangelisten in ihrer Osterbotschaft, der Gekreuzigte und Auferstandene.

Das Ostergeschehen aber macht das Kreuz um keinen Deut besser. Wer auf es blickt, sieht bloß ein Mahnmal irdischer Grausamkeit. Ob es an öffentlichen Stellen den Menschen zugemutet werden soll oder nicht, ist keine Frage, die mit Religion etwas zu schaffen hat, sondern mit nüchternen Erwägungen: Will man einer aus der Spätantike stammenden Tradition weiter folgen? Die Emphase, mit der manche Kruzifixe verbannen wollen, ist das dritte Missverständnis.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2014)

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