In der Schule wie auf dem Eis: Es muss auch eine Kür geben

Schulen sind zu ermutigen, parallel zu den Pflichtübungen für standardisierte Tests junge Menschen Sternstunden des Unterrichts erleben zu lassen.

Wer Literatur liebt, kann Einheitstexte für alle nur ablehnen. Sie sind eine geistige Verarmung, der man den Kampf ansagen muss.“ Das letzte Wort im diese Woche erschienenen „Quergeschrieben“ von Kurt Scholz klingt martialisch und es soll nicht unkommentiert bleiben.

Dass Lernen einzig und allein für die Zentralmatura eine geistige Verarmung bedeutet, wird, so nehme ich an, sogar von den glühendsten Befürwortern dieser neuen und erst in diesem Schuljahr ins Regelsystem eingeführten Abschlussprüfung zugestanden werden. Auch der Autor dieser Zeilen erblickt in einem von einer zentralen Stelle ausgegebenen und – im leider nicht verwirklichten Idealfall – auch von dieser Stelle korrigierten und bewerteten Test einen Fortschritt für das Schulwesen. Dieser könnte dazu beitragen, die Eingangsprüfungen für bestimmte Studien wieder überflüssig zu machen. Schule jedoch auf eine Institution zu reduzieren, die bloß dem Training für ein erfolgreiches Bestehen dieses Tests dient, wäre absurd. Niemand kann dies ernsthaft wollen.

Es ist im Übrigen gar nicht so einfach, selbst in einem formalen Fach wie der Mathematik sinnvolle zentrale Testfragen zu entwerfen. Bei dem Test, der die im weitesten Sinn des Wortes verstandene Sprachbeherrschung in möglichst vielen Facetten widerspiegeln soll, dürfte die Herausforderung für die Erfinder der Fragen noch um einiges schwieriger sein. Mit welchen Texten sollen sich die Probanden auseinandersetzen? Selbst wenn man eine kümmerliche Kurzgeschichte eines drittrangigen Schriftstellers wählt und verabsäumt, dazu die richtigen und angemessenen Fragen zu stellen – so geschehen in einem der Probeläufe für die Zentralmatura in Deutsch –, begeht man einen schlimmen Lapsus.

Der den Kandidatinnen und Kandidaten vorgelegte Einheitstext braucht in der Tat nicht unbedingt hohen literarischen Ansprüchen zu genügen. Aber auf die Qualität der Fragen, die damit verwoben sind, kommt es an. Diese richtig zu stellen und die Antworten sachgemäß und korrekt zu beurteilen, ist schwierig genug.

Und mit der Liebe zur Literatur hat das alles nichts zu tun. (Ebenso wenig wie die zentral gestellten Mathematikfragen das herauszuschälen vermögen, was als Kern der Mathematik zu betrachten ist.)

Umso mehr sind die Schulen und die in ihnen unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer zu ermutigen, möglichst viel Platz abseits von den standardisierten Tests für die von Kurt Scholz mit vollem Recht eingeforderte Beschäftigung mit der sowohl den Intellekt als auch das Gemüt der jungen Menschen ansprechenden Literatur zu schaffen.

Auch wenn es bei den zentralen Prüfungen nicht mehr vorkommen wird, sollte immer noch hinreichend Zeit und Engagement der Lehrerinnen und Lehrer dafür vorhanden sein, einen Aufsatz über den im Unterricht gelesenen „Brief des Lord Chandos“ schreiben oder eine Interpretation eines in der Stunde vorgetragenen Gedichts von Paul Celan verfassen zu lassen. Wenn man die Begegnung mit Texten wie diesen als Sternstunden des Unterrichts erlebt, empfindet man die zentralen Tests als haargenau das, was sie wirklich sind: notwendige, aber kaum inspirierende Pflichtübungen.


Es ist wie beim Eiskunstlauf: Wenn es neben der Pflicht im Unterrichten der jungen Menschen keine Kür mehr gibt, hat die Schule – egal, ob von einer allgemeinbildenden, einer berufsbildenden oder irgendeiner anderen Schulform die Rede ist – ihr eigentliches Ziel auf haarsträubende Weise verfehlt. So gesehen ist es gar nicht gut, auf die zentralen Test zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. So zentral, wie sie dem Namen gemäß auch verstanden werden könnten, sind sie nicht. Es gilt, deren Monopolstellung zu brechen und deren Gewichtung auf ein vernünftiges Mindestmaß zu reduzieren. Dann bleibt Platz für ein über formale Normen hinausgehendes Unterrichten.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2014)

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