Mathematik: Geisteswissenschaft an den technischen Universitäten

Wer Ingenieurmathematik als Baukasten einer Hilfswissenschaft versteht, der dem Publikum an den Kopf geworfen wird, sündigt wider den Geist.

Vor Kurzem befremdete der Mathematiker Jörn Loviscach in einem in der „Zeit“ erschienenen Artikel „Auswendig lernen und wieder vergessen“ mit seiner Aussage, die allermeisten Ingenieure brauchten nichts von der ihnen an der Universität eingepaukten Mathematik. Mit den Grundrechnungsarten und guten Computerprogrammen fänden sie ihr Auslangen. Die Mathematikvorlesungen seien künstlich errichtete Hürden, eine Hinterlassenschaft aus längst vergangener Zeit. „Mathematik als Symbol akademischen Anspruchs ist ein notdürftig kaschierter Numerus clausus.“

Mag sein, dass Herr Loviscach dann recht hat, wenn von den Vortragenden die „Mathematik für Ingenieure“ als eine Mathematik mit Abstrichen verstanden wird, als notdürftig verpackter Baukasten einer Hilfswissenschaft, der lieblos dem am Fach desinteressierten Publikum an den Kopf geworfen wird. Mag sein, dass es solche Paukkurse gibt – wie viele, will ich gar nicht wissen. Sie alle sündigen wider den Geist.

Denn es verhält sich genau umgekehrt: Dass im Fach Mathematik akademisch ausgewiesene Personen an technischen Universitäten mit den Vorlesungen der Ingenieurmathematik betraut werden, ist einzig und allein dadurch gerechtfertigt, dass sie nicht bloß vermitteln, wie man Mathematik lernt, sondern in erster Linie vermitteln, wie man Mathematik versteht. Die von der Denkungsart der Naturwissenschaften völlig durchdrungenen technischen Universitäten bieten zu Beginn ihrer Studien, ganz im Sinn des Collegium Logicum, mit der Mathematik jene Geisteswissenschaft an, die erst die Bedingung der Möglichkeit ist, exakte Naturwissenschaft zu betreiben. Phänomene der Natur präzise fassen zu können und sie – was den Beruf des Ingenieurs auszeichnet – für die Gestaltung der Welt zu nutzen, setzt voraus, diese in die Welt des Denkens übertragen zu können.

Die Denkmodelle selbst sind nicht Teil der Natur. Sie sind geistige Gebilde, in der Sprache der Mathematik vermittelbar. In diesem Sinn ist Galileis Wort zu verstehen, wonach die Sprache der Natur mit mathematischen Symbolen beschrieben ist.

Auf den Punkt gebracht: Mathematik für Studentinnen und Studenten der Ingenieurfächer ist keine Mathematik mit Abstrichen. Es ist eine Mathematik als „Vollprogramm“. Es ist eine Mathematik vom Feinsten. Es ist eine Mathematik, bestückt mit all dem, was sie auszeichnet.

– Alles, was als Erkenntnis präsentiert wird, wird begründet.

– Jede Begründung ist dem Verständnisniveau angemessen und konstruktiv nachvollziehbar.

–Scheinbegründungen, wie plausibel sie auch klingen mögen, und Beweise ohne Überzeugungskraft kommen nicht vor.

So gesehen unterscheiden sich Vorlesungen der Ingenieurmathematik nur in zweifacher Weise von den an klassischen Universitäten gehaltenen Vorlesungen zur Mathematik: in der Auswahl des Stoffes – das, was später in den Ingenieurfächern dienlich sein wird, steht im thematischen Zentrum der Ingenieurmathematik – und in der Strenge der Durchführung. Diese ist nämlich keineswegs geringer als bei den Vorlesungen für die Fachmathematiker, sie ist größer.

Denn leichthin formulierte Axiome, die den Fachmathematikern als Krücken zum Erreichen ihrer zuweilen in Wolkenkuckucksheimen hausenden Ziele dienen, spielen bei der Ingenieurmathematik keine Rolle. Für einen Fachmathematiker genügt es zu wissen, dass sein Axiomensystem vollständig und widerspruchsfrei ist. Für die Ingenieurmathematik ist das der falsche Weg. Bei ihr müssen alle Argumente, einem Wort Hermann Weyls folgend, „den Charakter einer aus völlig durchleuchteter Evidenz geborenen, klar auf sich selbst ruhenden Überzeugung tragen“. Auch darin erweist sich Mathematik als Geisteswissenschaft, dass sie dies buchstäblich „zur Sprache“ bringt. Jene Differenzialgleichungen, die Jörn Loviscach für verzichtbar hält, kommen dann wie von selbst hinzu.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Professor an der Technischen Universität Wien und hält dort die Vorlesung „Mathematik für Studierende der Elektro- und Informationstechnik“. In diesem Jahr ist dazu sein dreibändiges Buch „Anwendungsorientierte Mathematik“ bei Hanser erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2014)

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