Was 69 mal 81 mit dem Erhalt der Handschrift zu tun hat

Viele Argumente sprechen dafür, weiterhin die Handschrift zu lehren. Eines davon hat damit zu tun, dass sie dem grassierenden Konformismus entgegensteht.

Noch gut erinnere ich mich, als ich knapp nach meinem Mathematikstudium auf Anfrage eines interessierten Laien erklären sollte, wie man in der Schule die Quadratwurzel einer Zahl – zum Beispiel die Wurzel aus 10, also jene positive Größe, die mit sich selbst multipliziert das Ergebnis 10 liefert– berechnet. Ich kannte zwar das bereits schon von Babyloniern entdeckte und von Newton und seinen Kollegen Raphson und Gregory verallgemeinerte Verfahren, wusste aber auch, dass in der Schule ganz anders vorgegangen wird, und musste mir dieses Schulverfahren so recht und schlecht wieder in Erinnerung rufen. Ich hatte es einfach vergessen, weil ich es nach der Unterstufe nie mehr wieder brauchte.

Heutzutage stellt kaum mehr jemand diese Frage. Denn in den Schulen ziehen Lehrer und Schüler die Wurzel mit einem Tastendruck. Wie die Maschine dazukommt, bei der Eingabe von 10 nach dem Drücken der Wurzeltaste just 3,162278 auszuspucken, interessiert nur die wenigsten.

Das ist der natürliche Lauf der Dinge: Vieles von dem, was vor Jahrzehnten in der Schule gelehrt wurde, ist bereits so dem Vergessen anheimgefallen, dass es nicht einmal mehr die Lehrkräfte parat haben – es wurde durch anderes ersetzt, vermeintlich Wichtigeres, Brauchbareres, Langlebigeres.

Allerdings stellt sich die Frage, ob es Althergebrachtes gibt, das man zwar ersetzen könnte, aber doch nicht ersetzen sollte. Gehört zum Beispiel das Einmaleins dazu? Wir sind doch überall und jederzeit von Rechenmaschinen umgeben. Wozu also noch mühselig auswendig lernen, wie viel 7 mal 8 ergibt? Und bei der Multiplikation 69 mal 81 ist – von Rechengenies abgesehen – die Maschine allemal schneller und natürlich genauer.

Wenn auch die Schätzung, dass 70 mal 80 mit dem Produkt 5600 der Lösung sehr nahekommt, und eine kleine Zusatzüberlegung im Kopf – die Einerziffer des Produkts muss 9 lauten, und das Produkt muss durch 9 teilbar sein – schnell auf den exakten Wert 5589 schließen lässt. Aber mit solchen Spielereien scheint man derzeit in der Schule fehl am Platz zu sein.

Trotzdem weisen sie in die richtige Richtung zur Beantwortung der Frage, ob man noch das Einmaleins lernen soll: Wenn wir unser Vermögen erhalten wollen, verstehen zu können, und zwar nicht bloß oberflächlich kompetenzorientiert, sondern solide fundiert, dann zahlt es sich allemal aus, elementare Praktiken wie das Einmaleins zu beherrschen.

Es macht einen Unterschied, ob jemand blind an das Ergebnis 5589 von 69 mal 81 glaubt, oder ob dieses Ergebnis als plausibel erkannt werden kann. Ein ähnlicher Gedanke befördert die Skepsis darüber, dass in Grundschulen Finnlands die Handschrift nicht mehr gelehrt werden soll. Neben einer Reihe anderer, sehr triftiger Erwägungen liefert er ein weiteres Argument, das für den Erhalt des Lehrens dieser Kulturtechnik spricht: Lernt jemand, mit der Hand zu schreiben, erwirbt diese Person zugleich eine ihr eigene, individuelle Ausdrucksfähigkeit, die sie nicht besäße, würde sie bloß tumb Tasten drücken.

Das Schriftbild meiner Handschrift ist dem glatten, vorgefertigten Satz eines gedruckten Textes möglicherweise an Lesbarkeit unterlegen. Aber es verrät meine Fahrigkeit, meine Gedankensprünge, und ich behaupte rundheraus, dass selbst die krakelige Schrift mit ungelenker Hand einen ästhetisch höheren Reiz als das Druckbild einer Maschine besitzt.

Denn die Ästhetik der Schrift ist Ausdruck von Persönlichkeit. Es will mir scheinen, dass dem Konformismus ergebenen Gestaltern einer schönen neuen digitalen Welt dies gar nicht gefällt – und gerade darum sollen möglichst viele an der Handschrift, der Bescheinigung ihrer Eigenwilligkeit, festhalten. Zumal – hierin machen wir uns keine Illusionen – jeder in ein elektronisches Gerät getippte Buchstabe in den Archiven des großen Bruders gespeichert bleibt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Professor Rudolf Taschner hält an der TU Wien die Mathematikvorlesung für Studentinnen und Studenten der Elektrotechnik und ist zusammen mit seiner Frau, Bianca,

Betreiber von math.space im Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2015)

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