Es war ein Fehler, Putin nicht zur Auschwitz-Gedenkfeier einzuladen

Selbstverständlich dienten auch Ukrainer in der Truppe, die das KZ Auschwitz befreite. Aber zusammen mit ihnen auch Russen, Tataren, Georgier und andere.

Vor exakt 70 Jahren und zwei Tagen durchbrach ein Panzer der Roten Armee den Stacheldrahtverhau des Vernichtungslagers Auschwitz. Dieses unumstößliche Faktum stellt ein Symbol dafür dar, dass die Sowjetunion mit einem unfassbaren hohen Blutzoll den Großen Vaterländischen Krieg siegreich gegen den höllischen deutschen Aggressor, gegen barbarische Vernichter und gegen Judenmörder führte.
Gewiss, Stalin stand in dem von ihm beherrschten Land seinem Feind Hitler an Zerstörungswut und Mordgelüsten um nichts nach. Auch er war ein brutaler Schlächter, glühender Antisemit – und nur sein Tod 1953 hatte den Ausbruch eines gewaltigen Judenpogroms verhindert.
Nur ein einziges Mal, am 3. Juli 1941, drang bei dem paranoiden Gewaltherrscher ein Funken russischer Seele hervor, als er sich, nach einem mehrtägigen Schock über den unvermuteten Einmarsch deutscher Truppen, in einer Radiorede an das Volk mit den für ihn unüblichen Worten wandte: „Mitbürger, Brüder und Schwestern“. Er sagte sogar: „An euch, meine Freunde, wende ich mich!“ Denn die von seinem Zerstörungstrieb geschwächte Armee stand im Osten allein, und es war klar, dass er zu einem unerbittlichen Krieg aufrufen musste.
Unermessliche Opfer wurden von den Soldaten der Sowjetunion bis zum Sieg abverlangt. Darum hätte unbedingt der nun in Moskau regierende Staatschef zu der eben abgehaltenen Feier der Befreiung von Auschwitz eingeladen werden müssen. Es wäre nur recht und billig, wenn er in vorderster Reihe der erschütternden Gedenkveranstaltung beigewohnt hätte, bei der wohl zum letzten Mal in diesem großen Rahmen die hochbetagten Überlebenden von ihrer Qual in dieser Hölle auf Erden berichteten, aus der sie, die Gequälten, die nur wenigen angesichts der Millionen Getöteten, von eindringenden Soldaten aus Stalins Reich erlöst wurden.
Aber Putin kam nicht nach Auschwitz. Weil man ihn dort nicht sehen wollte. Wie Meret Baumann in der „NZZ“ schrieb, „behalf man sich in Warschau“ zu diesem Zweck „mit einem diplomatischen Trick. Anders als in vergangenen Jahren wurden anstatt formaler Einladungen lediglich Verbalnoten an die Hauptstädte verschickt“.
Was für ein ärgerlicher Fauxpas, den der gewiefte Taktiker Putin sogleich seinem Volk gegenüber sehr klug zu seinen Gunsten auszuschlachten verstand: Er eröffnete zeitgleich zusammen mit dem Oberrabbiner von Russland, Berel Lazar, in Moskau ein jüdisches Museum – tatsächlich ist es in der langen Geschichte Russlands Juden nie besser gegangen als nun unter Putin. Und das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht bisher angeblich geheim gehaltenes Material zur Befreiung von Auschwitz, darunter ein Telegramm, in dem die polnische Seite die Verdienste der Roten Armee lobt.
Zu diesem Lapsus gesellte sich ein weiterer Fauxpas: Der polnische Außenminister Schetyna provozierte mit dem in einem Radiointerview gefallenen Satz, es seien ukrainische Soldaten gewesen, die die Tore des Lagers geöffnet hätten.

Selbstverständlich hatten auch Ukrainer in der Truppe gedient, die Auschwitz befreite. Aber zusammen mit ihnen eben auch Russen, Tataren, Georgier, Tschetschenen und andere. Doch darüber sieht Grzegorz Schetyna generös hinweg. Er denkt offenbar vornehmlich an den aktuellen Konflikt Russlands mit der Ukraine und scheint nur bestrebt, mehr Öl ins Feuer zu gießen.
Die verpasste Einladung Putins wäre von niemand Vernünftigem als Freibrief für seine Aggressionspolitik verstanden worden. Sie hätte aber eine Chance eröffnen können, im Hinblick auf die blutige Geschichte des letzten Jahrhunderts neue Ansätze für Verhandlungen zu suchen. Offenbar wollen Leute wie Schetyna davon nichts wissen.
Wenn Geschichte etwas lehrt, so ist es Melancholie. Noch mehr Schwermut kommt auf, wenn sogar diese Lehre in den Wind geschlagen wird.

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