Der erste, letzte, einzige Christ, der Petrus und die anderen beschämte

Der Gründonnerstag ist nicht nur der Tag des letzten Abendmahls, sondern auch der des Judaskusses – eines folgenschweren Missverständnisses.

Anlässlich des Erscheinens seines letzten Romans „Judas“ bekannte Amos Oz in einem Gespräch mit der „Neuen Zürcher Zeitung“, dass er als 16-jähriger Kibbuznik erkannte, dass er weder die klassische Musik noch die große bildende und literarische Kunst Europas verstehen könne, wenn er sich nicht mit den Evangelien auseinandersetzte. Und sofort entwickelte sich in ihm dabei eine Zuneigung zu Jesus.

Denn einer Sache ist sich Oz sicher: Dass in guten Zeiten jüdisches Leben „ein großes Open-Air-Seminar ist. Ein endloses Spiel mit Interpretationen. In schlechten Zeiten wird es dogmatisch. Aber es gibt ein anarchistisches Gen in der jüdischen Zivilisation. In diesem Sinn war Jesus ein fabelhafter Jude. Ein großer Debattierer, der die Dinge auf den Kopf stellte.“ Oz liebt Jesus für seine „heimliche Anarchie“. Seine Sicht wird von vielen geteilt, die aus den Schriften der Evangelisten die ursprüngliche Botschaft des Heilands zu entnehmen versuchen.

Schon Bismarck meinte, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, und er hat völlig recht. Denn die Bergpredigt ist als letzter Aufruf knapp vor Hereinbrechen des Gottesreiches gedacht. Jenes Gottesreiches, das ganz und gar nichts mit irdischen Sozialsystemen zu tun hat. Und wenn Jesus von etwas überzeugt war, dann von der Naherwartung des Ewigen. Ein wenig überspitzt formuliert: Morgen, spätestens übermorgen, wird sich diese Parusie, die Gegenwart Gottes, ereignen.

Folgerichtig schließt Amos Oz daraus, dass man in Judas, dem Jünger, der aktiv dafür sorgt, seinen nun in Jerusalem weilenden Meister, Lehrer und Wunder vollbringenden Arzt vor den Sanhedrin, die große Versammlung der Hohepriester und Schriftgelehrten zu führen, den eifrigsten, vielleicht sogar den unter den zwölf einzigen an Jesu Worte Gläubigen erkennt. Die anderen elf konnten dieses Geschehen nicht fassen, stoben auseinander, Simon Petrus verleugnete Jesus gar – diese für die Jünger peinlichen Szenen dürften sich tatsächlich so ereignet haben. Hingegen sollte man die auf Judas gemünzten Berichte in den Evangelien mit Vorbehalten lesen, denn sie sind nicht stimmig.

Amos Oz spürte detektivisch nach, dass die ominösen 30 Silberlinge nur dem Wert von ein paar hundert Euro entsprachen. Warum sollte Judas seinen Herrn und Meister „für 30 Silberstücke verkaufen? Und selbst wenn, warum sollte er sich danach erhängen? Und ich hatte noch eine Frage: Warum sollte jemand auch nur einen Cent dafür bezahlen, dass ein Mensch durch einen Kuss verraten wird, den ganz Jerusalem kannte?“

Um im römischen Weltreich Fuß fassen zu können, sahen sich die Verfasser der Evangelien gezwungen, einerseits die Rolle der römischen Besatzer, die in Wahrheit mit drastischer Brutalität über Palästina herrschten, milde wirken zu lassen. Pilatus ließen sie seine Hände gar in Unschuld waschen, während die Rolle des Judas und seines Volkes – „in der deutschen Sprache ist es für ein Kind, das die Judas-Geschichte zum ersten Mal hört, nicht leicht, zu unterscheiden zwischen ,Jude‘ und „Judas‘“, sagt Amos Oz – düster gemalt wird.

Als die elf am irdischen Jesus irre Gewordenen im Auferstandenen wieder zum Glauben fanden, gründeten sie die Kirche – unter Ausschluss des Judas. Denn dieser hatte sie alle beschämt, da er – so sagt es im Roman Schmuel Asch – „der erste, der letzte, der einzige Christ“ gewesen sei.

Schon 1975 hat der Tübinger Altphilologe Walter Jens in seinem Buch „Der Fall Judas“ dessen Rolle als Verräter in Zweifel gezogen und „Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ verfasst. Damals erregte Jens damit in der Öffentlichkeit noch Interesse.

Heute ist das alles dahin: Die Bande der Tradition sind gekappt, die Werke der klassischen Kunst werden nicht mehr verstanden, die an die Existenz rührenden Fragen überspielt man mit einem Antidepressivum. Und beim Wort Golgota denkt man an eine Zahnpasta.

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Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2015)

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