Das Legat des mathematischen Genies John Forbes Nash

Er besuchte keine Vorlesungen, er sammelte keine Leistungspunkte, er pfiff auf Bachelor und Master – und er gewann den Nobel- und den Abelpreis.

Die am vergangenen Samstag bei einem tragischen Autounfall gemeinsam verstorbenen Alicia und John Nash erlebten in ihrem irdischen Dasein Höhen und Tiefen, die ihresgleichen suchen. John Nash, der gefeierte junge Mathematikprofessor in Princeton, heiratet auf dem Höhepunkt seiner Karriere die brillante Physikerin Alicia de Lardé. Er versucht sich an der Riemannschen Vermutung, dem größten, immer noch ungelösten Problem der Mathematik, und erkrankt an einer teuflischen paranoiden Schizophrenie, die ihn jahrzehntelang im Dunkel des Irrsinns fesselt.

Seine Frau hält, aller schrecklichen Wahnattacken, gefolgt von öder Stumpfheit zum Trotz, heroisch zu ihm. Wie durch ein Wunder vermag sich Nash von seiner Krankheit so weit zu lösen, dass man es wagt, ihn mit dem Nobelpreis für seine Leistungen aus dem Gebiet der Spieltheorie zu ehren und öffentlich auftreten zu lassen. Knapp vor seinem Tod war das Ehepaar anlässlich der Verleihung des Abelpreises durch den norwegischen König in Oslo.

Die bewegende Lebensgeschichte von Alicia und John Nash wurde von Sylvia Nasar in der Biografie „A Beautiful Mind“ erzählt; der gleichnamige Film erhielt vier Oscars. In einem Kapitel meines Anfang September dieses Jahres erscheinenden Buchs „Die Mathematik des Daseins“ widme ich ein Kapitel den Erkenntnissen von John Nash in der Spieltheorie. An dieser Stelle sei nur ein Aspekt im Leben von John Nash beleuchtet, nämlich wie er als Student in Princeton zu seinen Erkenntnissen gelangte.

Er kommt mit dem Gutachten eines Professors des Carnegie Institute of Technology zur berühmten Universität, wobei dieses Gutachten aus einem einzigen Satz besteht: „Dieser Mann ist ein mathematisches Genie.“ Allerdings macht er damit in Princeton wenig Eindruck, denn dort wimmelt es nur so von mathematischen Genies. Außerdem benimmt sich John Nash als Student höchst eigenartig: Er besucht keine Vorlesungen, er nimmt an keinen Seminaren teil, er liest kaum Fachliteratur, er schlendert bloß scheinbar gedankenverloren auf dem Campus herum. Nur wenn die Koryphäen der Mathematik einander beim Tee in der Fuld Hall treffen, ist er immer dabei, weil er hören will, welche Probleme von ihnen gewälzt werden.

Er schnappt bisher unbeantwortete Fragen auf und versucht danach, sie auf unzähligen Blättern Papier, die fast alle schließlich im Papierkorb landen, von allen möglichen Seiten zu beleuchten. Immer in dem Wissen, dass er die Sache von der unkonventionellen Seite betrachtet. Dass er mit seiner Methode schnell in Sackgassen gerät, stört ihn nicht im Mindesten. Morgen treffen sich die Professoren wieder, und neue Probleme werden in den Raum gestellt. Einmal glaubt er, einen tollen Treffer gelandet zu haben. Er spricht bei John von Neumann, dem Papst der Mathematik in Princeton, vor, der ihn hochkant aus dem Zimmer wirft, weil von Neumann den Geniestreich des John Nash nicht erkennt. Nash gibt nicht auf, findet in Albert Tucker seinen Doktorvater, und seine wenige Seiten umfassende Dissertation gibt der von Oskar Morgenstern und John von Neumann erfundenen Spieltheorie den entscheidenden Impuls.

Mit den Erkenntnissen von Nash wird die Spieltheorie für die Analyse wirtschaftlichen Handelns dienlich – so wie es deren Erfinder vorgesehen, aber nicht ganz erreicht haben. Diese Dissertation bildet auch die Grundlage für die Verleihung des Nobelpreises an John Nash.

Weshalb erzähle ich hier diese Geschichte? Weil sie sich so etwas an den heutigen europäischen Universitäten nie hätte ereignen können, die sich bieder an die Bologna-Regeln halten – welch ein Frevel am Namen dieser Stadt! Weil die Bürokratie der Freiheit der Lehre misstraut. Ein Student wie John Nash ist in Europa nicht vorgesehen.

Zugegeben, die meisten Studenten sind nicht wie er. Sie brauchen ein Korsett. Doch derzeit ist es viel zu eng geschnürt. Wann endlich wird es gelockert?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Rudolf Taschner ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2015)

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