Wenn zentral, dann wirklich zentral. Alles andere ist Augenauswischerei

Wie gut man Mathematik verstanden hat – das ist etwas anderes, als gelernt oder geübt hat – ist schwer zu bewerten. Und punktuelle Tests sind da sicher ungeeignet.

Eine Protestkundgebung besonderer Art ist für heute auf dem Hauptplatz in Baden angekündigt: Eltern von Schülerinnen und Schülern der 7A-Klasse des Gymnasiums Frauengasse fordern, die mit sofortiger Wirkung ausgesprochene Suspendierung eines Mathematiklehrers der Schule rückgängig zu machen. Sie war deshalb erfolgt, weil dieser in der Schule offenbar sehr beliebte Pädagoge, dem 2008 sogar der Titel „Lehrer des Jahres“ verliehen wurde, die Arbeiten der schriftlichen Matura aus Mathematik zu milde beurteilt haben soll.

Es ist an dieser Stelle selbstverständlich unmöglich, über dieses eigenartige Vorkommnis zu befinden. Eigenartig deshalb, weil zunächst von der Vorsitzenden und der Kommission die korrigierten Maturaarbeiten „als in Ordnung befunden freigegeben“ wurden und erst aufgrund einer anonymen Anzeige andere zurate gezogene Fachleute auf einer strengeren Benotung bestanden. Doch drei Schlüsse sollte man – unabhängig davon, wie dieser Einzelfall zu bewerten ist – daraus ziehen.

Erstens: Es ist nur bedingt wahr, dass die schriftliche Reifeprüfung in Österreich zentral erfolgt. Wenn die Lehrkraft der Klasse die schriftlichen Arbeiten korrigiert, wird der strenge Maßstab einer zentralen Prüfung sträflich unterlaufen.

In Frankreich, wo seit Jahrzehnten zentrale Abschlussprüfungen gang und gäbe sind, ist es selbstverständlich, dass die Prüfungsarbeiten von Leuten korrigiert werden, die keinerlei Kontakt zu den Schülern oder den Lehrern haben. Man sollte nach der Devise „wenn schon zentral, dann wirklich zentral“ vorgehen, alles andere ist Augenauswischerei.

Obwohl ich dieses Ceterum-Censeo schon überdrüssig bin, sei an dieser Stelle noch einmal dafür plädiert, die schriftliche Reifeprüfung nur teilzentral durchzuführen, also nur eine Hälfte der Klausur in jedem der Fächer zentral – diese Hälfte aber wirklich zentral – durchzuführen und die andere Hälfte der Person des Klassenlehrers zu überantworten.

Zweitens: Es ist bezeichnend, dass just im Fach Mathematik diese Divergenzen beim Maßstab der Beurteilung auftauchen. Ganz im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, gerade bei der exakten Mathematik müsste die objektive Beurteilung möglich sein, wies der dieses Jahr verstorbene Pädagoge Karlheinz Ingenkamp in seinem 1971 erschienenen Klassiker „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ darauf hin, dass dies nicht stimmt.

Mittelprächtige Prüfungsarbeiten aus Mathematik wurden von verschiedenen Korrektoren mit allen Beurteilungen von Sehr gut bis Nicht genügend versehen, und dies sogar mit einer noch größeren Streuung als im Fach Deutsch, bei dem man dies viel eher erwartet.

Auch im brandaktuellen Fall des Badener Lehrers waren, so schreiben die Eltern, „bei den Typ-1-Aufgaben alle eingesehenen Arbeiten korrekt beurteilt“, nur bei den Typ-2-Aufgaben, bei denen aufgrund der komplexen Aufgabenstellung ein breiter Interpretationsspielraum der Beurteilung gegeben ist, dürfte es sich gespießt haben.

Angesichts der seit mehr als 40Jahren bekannten Befunde von Ingenkamp darf man Zweifel hegen, ob es fair ist, ex cathedra eine zu milde Beurteilung zu konstatieren und mit einer Suspendierung zu ahnden.

Drittens: Natürlich ist eine objektive Beurteilung bei Multiple-Choice-Aufgaben möglich. Auch bei den meisten Typ-1-Aufgaben, die mit kurzen Antworten schnell erledigt sind.

Sie mögen klug gestellt sein, doch dem, worauf der Mathematikunterricht zielt, werden sie leider nicht gerecht. Denn das mathematische Verständnis kann mit ihnen nicht beurteilt werden. Höchstens Sekundärtugenden werden geprüft, die dem mathematischen Verständnis vielleicht nützlich sind, mit ihm jedoch nichts zu tun haben.

Wie gut jemand Mathematik verstanden hat – das ist etwas anderes, als gelernt oder geübt hat! – ist schwer zu bewerten. Und punktuelle Tests sind da sicher ungeeignet.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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