Das Lenkrad als das letzte große Refugium von Freiheit

Die durch digitale Technik eröffneten Möglichkeiten einer neuen Mobilität als Pioniere mitzuentwickeln stünde den Ingenieuren unseres Landes sehr gut an.

Das Wort Automobil ist ein Euphemismus. Das griechische „autós“ heißt „selbst“ und das lateinische „mobilis“ bedeutet „beweglich“. Es sollte sich demnach um ein selbst fahrendes Gefährt handeln. In Wahrheit aber handelt es sich um ein Fahrzeug, dass die für die Bewegung nötige Kraft nicht aus den Muskeln eines Menschen oder eines Tiers, sondern aus einer Maschine bezieht. Die eigentliche Bewegung aber wird nicht vom Automobil, sondern vom Fahrer gesteuert: Er lenkt mit seinen Händen, er bremst und beschleunigt mit seinen Füßen, er organisiert die Bewegung mit seinem Kopf.

In wenigen Jahren wird die schon mehr als ein Jahrhundert währende, für viele Menschen aufreibende und zuweilen sogar lebensgefährliche Art der Fortbewegung endlich mittels eines dem eigentlich Sinn des Wortes angemessenen Automobils ersetzt werden. „Lesen statt lenken“ übertitelte am vergangenen Samstag „Die Presse“ einen Artikel über das neue automatisierte Fahren. Dass erst 2016 in Österreich die erste Testtrecke für echte Automobile in Betrieb gehen wird, ist leider reichlich spät. Aber besser jetzt als noch später.

Denn die durch digitale Technik eröffneten Möglichkeiten einer neuen Mobilität als Pioniere mitzuentwickeln, stünde den Ingenieuren unseres Landes sehr gut an. Diese neue Mobilität verspricht eine glänzende Zukunft: Vor allem, wenn sich die Menschen der dicht besiedelten Gegenden der Erde – in China oder in Indien – ähnliche Möglichkeiten des individuell gestalteten Reisens wie im alten Europa wünschen, wird die neue Mobilität das Mittel der Wahl sein.

Denn dass jede und jeder eines Milliarden zählenden Volkes mit dem eigenen Auto die Straßen verstopft und die Luft verschmutzt – selbst Elektroautos machen dies indirekt, weil die Batterien mit Kraftwerkstrom aufgeladen werden –, wird niemand wollen.

Der genannte „Presse“-Artikel bedarf in dieser Hinsicht einer Fußnote: Ein Vorteil des echten Automobils besteht darin, dass man es nicht besitzt, sondern nach Bedarf bestellt: Es kommt automatisch und zeitgerecht an die gewünschte Einstiegsstelle, transportiert die Reisenden eigenständig zum Zielort und versteckt sich danach wieder selbsttätig in der nächstliegenden Garage.

Bei langen Routen gleitet es bei einem Bahnhof auf einen Waggon eines Zugs, der, energiesparender als das Auto, es zu dem am Ziel nächstgelegenen Bahnhof transportiert – eine ideale Symbiose von Schiene und Straße.

Vertreten wurde im Artikel die Meinung, dass die Lenkung des Gefährts jederzeit vom Menschen übernommen werden könne. Es wäre klug, ihr zu widersprechen: Die Automatisierungstechnik dürfte bereits so weit entwickelt sein, dass sie allen denkbaren Szenarien des Verkehrs gewachsen ist. Es wäre vernünftiger, die Menschen völlig der Mühe des Steuerns des Fahrzeugs zu entheben. An dieser Stelle ist wohl der heftigste Protest gegen das automatisierte Fahren zu erwarten: Viele werden sich nicht das Steuer aus der Hand nehmen lassen wollen.

Für sie ist das Steuer das letzte große Refugium von Freiheit, das ihnen ein Staat noch lässt, der sonst mit Rauch- und Alkoholverboten und der penibelsten Gesundheitsvorsorge beginnend über die bis ins kleinste Detail ziselierten Lehrpläne an Schulen und Universitäten oder die widersinnigsten Compliance-Vorschriften weiterschreitend bis hin zur Legion von Gesetzen fortführend jede Freiheit mit vorgeblicher Sicherheit zuschnürt, die den Alltag auf das Kleinkarierteste einschneidet.

Die „freie Fahrt für freie Bürger“ – wenigstens das will sich niemand nehmen lassen. Es wird ein gerüttelt Maß an Überzeugungskraft vonnöten sein, die Bürger von der Illusion des „Ich bin frei, denn ich kann so fahren, wie ich will“ zu erlösen und ihnen vor Augen zu führen, dass sie sich ihre wirklich wichtigen Freiheiten in ganz anderen Bereichen erkämpfen müssen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2015)

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