Grotesk ist Herr Rong Jinzhen, selbstzerstörerisch sein Talent

Für das geheimnisumwitterte und gefährliche Geschäft des Verschlüsselns sammelt man die besten Köpfe, derer man habhaft werden kann.

Alles in diesem Buch ist grotesk. Vielleicht ist dies der Trick, mit dem es dem chinesischen Schriftsteller Mai Jia gelingt, über Interna seines Landes zu berichten, von denen zu berichten, selbst wenn sie bereits Jahrzehnte zurückliegen, der Zensur nicht gefallen dürfte. „Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“, so lautet der Titel des Buches. Die Mathematik ist das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong Jinzhen, der Hauptfigur des Romans.

Aber nicht die Mathematik in ihrer ganzen Schönheit, sondern ein nur den kauzigsten der für dieses Fach Begabten, den Tüftlern und Eigenbrötlern zugängliches Gebiet, jenen Leuten, deren einziges Ziel das Lösen gefinkelter Rätsel und trickreicher Probleme ist: das Entziffern verschlüsselter Botschaften. Grotesk ist die Geschichte der Vorfahren des Titelhelden, beginnend mit einer alten reichen Frau, der es an nichts fehlt außer einem ruhigen Schlaf. Niemand vermag ihre wirren Träume zu deuten.

Es treten Gelehrte auf: Einer, der aus Amerika neues Wissen nach China importiert und eine Universität mit gutem Ruf begründet. Unter seinen Nachkommen eine einnehmende Mathematikerin, deren Sohn, mit seinem gewaltigen Kopf Teufelsschädel genannt, sich tatsächlich als wahrer Satansbraten erweist.

Und im weiteren Gegenzug dessen uneheliches Kind, auch mit einem großen Kopf wie ein Kobold auf seine Umwelt wirkend, ein in sich gekehrtes, kaum eines seiner Gefühle nach außen dringen lassendes, schrulliges Wesen. Da die Mutter bei der Geburt stirbt, wächst er bei gefühlskalten Zieheltern auf. Seine Begabung für Zahlenspiele wird durch pures Glück entdeckt. Dieser Autist und mathematisch Inselbegabte ist Rong Jinzhen.

Ein aus Polen stammender und in Wien als unbestrittenes Genie wirkender Mathematiker mit jüdischen Wurzeln kommt im Zuge seiner Vertreibung aus Europa an die Universität, in der ihm der talentierte Herr Rong als Ausnahmeerscheinung begegnet. Er erkennt den viel Jüngeren als gleichrangig an, versucht ihn für die reine Mathematik zu gewinnen und erfährt zu seinem Bedauern, dass der Staat China sich des Autisten bemächtigt, weil wohl nur er die im Code Purpur verschlüsselten Nachrichten zu knacken vermag. Dafür wird er von der Regierung wie ein Gott gefeiert. Bei dem noch vertrackteren Code Schwarz hingegen versagt er – nicht aus Unvermögen, sondern aus Nachlässigkeit im Umgang mit seinen Notizen und verfällt dem Irrsinn.

Das Groteskeste von allem: Sein aus Polen stammender Mentor ist indirekt für Triumph und Wahnsinn des Herrn Rong verantwortlich. Denn auch dieser wollte seine Finger nicht von den Techniken der Verschlüsselung lassen. Nicht grotesk, sondern wahrheitsgetreu ist die Beschreibung des Talents des Herrn Rong, der „herauszufinden versucht, was ein anderes Genie ausgeheckt hat. Es ist das entsetzlichste Gemetzel, das sich ein Mann antun kann. Für dieses geheimnisumwitterte und gefährliche Geschäft sammelt man die besten Köpfe um sich, derer man habhaft werden kann. Und macht nichts weiter als zu raten, was hinter einer Reihe arabischer Ziffern steckt. Klingt, als ob es Spaß machen müsste, wie ein Spiel, nicht wahr? Doch dieses Spiel hat bereits das Leben zahlreicher bemerkenswert intelligenter Vertreter der Gattung Menschheit ruiniert. Darin liegt das Faszinierende an Geheimcodes. Und darin liegt ihre Tragödie.“

Mai Jia ist es in reportagehaft kühlen, lakonischen Schilderungen beeindruckend gelungen, die Atmosphäre des Grotesken beim Lesen des Buches wachzurufen. Ganz natürlich empfindet man die Tatsache, dass ein sich der ewig geheim bleibenden Arbeit des Entschlüsselns codierter Texte verschreibendes Wesen autistische Züge trägt. Umso grotesker, dass Code Schwarz von einem durchschnittlich begabten Mathematiker mit einem simplen Trick entschlüsselt werden konnte...

Mia Jias Roman „Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“ ist im Verlag DVA erschienen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der
Spieltheorie“
(Hanser Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2015)

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