Diesmal stellt sich eine Person mit Charisma zur Wahl: In der Schweiz

Beneidenswert ist ein Land, in dem ein von boshaften Gefühlen freier politischer Diskurs selbst mit den erbittertsten Gegnern geradezu selbstverständlich ist.

Obwohl er uns an Größe, an gemeinsamer Geschichte, an verbindenden Traditionen nahe ist, wissen die meisten Österreicher sehr wenig über die politischen Konstellationen ihres westlichen Nachbarn, der Schweiz. Angela Merkel im Norden, Viktor Orbán im Osten, selbst Matteo Renzi im Süden, von dessen schillerndem Vorgänger Silvio Berlusconi ganz zu schweigen, sind auch hierzulande bekannte Persönlichkeiten.

Doch nur selten wird man einen Österreicher treffen, der eine Schweizer Politikerin oder einen Schweizer Politiker so wie aus der Pistole geschossen zu nennen vermag wie zum Beispiel den Namen Jean-Claude Junckers, des Luxemburgers, der im fernen Brüssel regiert.

Dies mag dem politischen System der Schweiz geschuldet sein, das mit voller Absicht darauf bedacht ist, nur selten Platz für charismatische Personen frei zu halten: Der Souverän ist dort viel ausgeprägter als in anderen Staaten das alles bestimmende Wahlvolk. Seinen Entscheidungen haben sich die Regierenden zu beugen, die sich dementsprechend eher als Vollzugsorgane denn als fantasievoll, verantwortungsbewusst und mutig gestaltende Wegbereiter verstehen.

Umso bemerkenswerter ist es, dass bei den am Sonntag nach der nächsten Woche in der Schweiz anberaumten Parlamentswahlen eine markante Persönlichkeit in die Arena tritt, die dem Typus des braven, aber farblosen Durchschnittspolitikers überhaupt nicht entspricht: Roger Köppel, ein außerordentlich eloquenter Intellektueller reinsten Wassers. Er ist kein Berufspolitiker, sondern ein freier Unternehmer, der auf eigenes Risiko die „Weltwoche“, eine viel gelesene Wochenzeitschrift führt, die er mit luziden Kommentaren aus seiner Feder bereichert.

Köppel ist auch als ehemaliger Journalist der „Welt“ ein sich auf dem internationalen Parkett gewandt bewegender Homme de lettres, der es nicht nötig hätte, das mit Fallstricken und Abgründen bestückte politische Gebirge zu besteigen. Er wagt es aber dennoch überzeugt, weil er meint, nur so vorbehaltlos zu seinem Land stehen zu können. Noch bemerkenswerter ist es, dass Roger Köppel Mandatar einer Partei sein will, die bei den anderen Mitbewerbern als schwarzes Schaf gehandelt wird: der von Christoph Blocher geprägten SVP.

Gerade in Österreich galt Blocher lange Zeit als das Schweizer Pendant zu Jörg Haider. Eine völlig ungerechtfertigte Parallele, denn Blocher steht für Konservatismus, Wirtschaftsliberalismus und Betonung der Eigenständigkeit der Schweiz. In der Tradition von Blocher setzt Köppel kantige Markierungen gegen die seiner Meinung nach mit moralischen Mäntelchen umhüllten und mit Wieselworten wie „Gerechtigkeit“ umgarnten dogmatisch-etatistischen Positionen der aktuellen Schweizer Regierungspolitik und gegen die Dienlichkeit der anderen Schweizer Parteien der Europäischen Union gegenüber, die viele Schweizer als zu wenig demokratisch legitimiert empfinden. Am bemerkenswertesten aber ist, dass in der Schweizer politischen Szene Proponenten für Roger Köppel auftreten, die seine Ansichten zwar als verwerflich verdammen und trotzdem ausdrücklich begrüßen, dass er sie im Parlament zur Sprache bringen wird.

Gerade von Jean Ziegler, dem Enfant terrible aller großen Konzerne, würde man nicht Worte wie diese erwarten: „Söldner, Handlanger, Verwaltungsräte bevölkern die meisten bürgerlichen Parlamentssitze. Wir haben ein vom multinationalen Finanzkapital kolonisiertes Parlament. Ich teile fast keine der Ideen von Roger Köppel. Die meisten seiner Standpunkte sind schrecklich. Aber seine geistige Unabhängigkeit, seine Lust an der Debatte, seine persönliche Kultur und Bildung lassen sich ihm nicht absprechen.“

Mit dieser Empfehlung gewinnt Ziegler die Statur eines Voltaire, dem der geistige Diskurs mit den erbittertsten Gegnern über alles ging. Ein Land ist beneidenswert, in dem eine solche, von boshaften Gefühlen freie Debatte Usus ist.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der
Spieltheorie“
(Hanser-Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2015)

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