Geld kann sich vermehren, Bäume aber wachsen nicht in den Himmel

Das Jubeljahr, das nun vom römischen Papst ausgerufen worden ist, ist leider nicht für unsere irdischen Schulden gedacht.

Aristoteles, der größte Universalgelehrte der Antike, staunte darüber, dass sich Geld mit der Zeit vermehrt. Nur Lebendiges könne sich vermehren, meinte er, und Geld sei doch tot.

Wir können Aristoteles sein Staunen nehmen: Nicht, weil es lebendig wäre, vermehrt sich Geld, sondern, weil wir auf die Zukunft unsere Hoffnung setzen. Nimmt man einen Kredit auf, verlangt der Gläubiger dafür Zinsen. Denn der Gläubiger argumentiert, dass der Kreditnehmer mit dem erhaltenen Geld ein gutes Geschäft machen werde, und der Gläubiger gleichsam als Teilhaber daran mitverdiene, folglich vom Gewinn die von vornherein vereinbarten Zinsen zusätzlich zum verliehenen Kapital kassiert. Aus 1000 verborgten Euro sind bei 3,5 Prozent Zinsen nach einem Jahr 1035 Euro geworden.

Eine der wichtigsten Formeln der angewandten Mathematik betrifft dieses Zinswachstum, das – weil schon im zweiten Jahr bereits 1035 Euro noch einmal um 3,5Prozent vermehrt werden – nicht linear, sondern exponentiell zunimmt. Nur ein Naivling, der sich 1000 Euro um 3,5 Prozent Jahreszins für 20 Jahre ausborgt, rechnet so, dass er 35Euro mit 20 multipliziert und von einer Rückzahlung von nur 1700 Euro träumt.

In Wahrheit muss er aufgrund des Zinseszinses mit rund 2000 Euro Rückzahlung nach 20 Jahren rechnen: Nach 20 Jahren hat sich bei 3,5 Prozent Jahreszins seine Schuld bereits verdoppelt; man nennt diese Zeitspanne die Verdopplungszeit. Die Formel, die die Verdopplungszeit ziemlich genau benennt, lautet: Man dividiere 70 durch die Prozentzahl des Jahreszinses. So einfach ist sie. In unserem Beispiel ergibt die Division von 70 durch 3,5 die genannte Verdopplungszeit von 20 Jahren.

So einfach die Formel ist, so folgenschwer ist sie auch. Wenn der heilige Josef nach Geburt des Christkindes eine Sesterze bei der Bank von Bethlehem zum festen Zinssatz von 3,5 Prozent auf ein Sparbuch für den Überbringer ohne Losungswort anlegt, sind nach 20 Jahren aus der einen Sesterze zwei Sesterzen geworden. Nach 200 Jahren aber hätte sich diese eine Sesterze bereits zehnmal verdoppelt, und die zehnmalige Verdopplung entspricht cum grano salis einer Multiplikation mit 1000. Bereits tausend Sesterzen könnte man im Jahr 200 abheben. Und würde man jetzt, mehr als 2000 Jahre nach Christi Geburt, das Sparbuch einlösen wollen, müssten nicht wie bei den 200 Jahren drei Nullen an 1 angehängt, sondern jetzt, nach 2000 Jahren, gar 30 Nullen an 1 angefügt werden. Ein Einser mit 30 Nullen, eine Quintillion!

Da kann doch etwas nicht stimmen. Die Rechnung ist zwar korrekt, aber die Bank von Bethlehem gibt es nicht mehr. Selbst wenn es sie gäbe – Sesterzen gibt es nicht mehr als gültiges Geld. Dazwischen gab es Krisen und Entwertungen. Nicht eine, Dutzende. Denn die Bäume können einfach nicht in den Himmel wachsen.

Manche glauben, mit der Abschaffung des Zinseszinses, gar mit einem Zinsverbot der Gefahr von Krisen Herr werden zu können. Doch wie wir jetzt, da praktisch keine Zinsen erlegt werden, schmerzlich erfahren, bedeutet ein Wegfall von Zinsen zugleich ein Verlust von Zukunft. Dagobert Duck hat einfach recht: Zeit ist Geld.

Da war die Bibel in ihren Anordnungen klüger: Immer nach 49 Jahren soll, so steht es im Buch Leviticus, ein Jubeljahr ausgerufen werden. Es werden umfassend Schulden erlassen, Verpfändungen werden annulliert, die Schuldsklaverei wird aufgehoben. Man beginnt per Dekret gleichsam wieder von Neuem. Denn alle Güter schuldet Israel ohnehin seinem Gott.

Leider klappt das nur in kleinen Gesellschaften, nicht in einer Weltwirtschaft. Darum ist das Jubeljahr, das nun vom römischen Papst ausgerufen wurde, allein für die Schulden gedacht, die wir nicht einem irdischen, sondern dem himmlischen Gläubiger gegenüber angehäuft haben.

Bei den Schulden auf Erden hingegen wissen wir fatalerweise nicht, wie sie unsere Kinder schultern werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der Spieltheorie“, Hanser-Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.