Die Begegnung mit dem Kind als eine Begegnung mit dem Ewigen

Im Blick auf das strahlende Kind wird man sich dessen bewusst, was eine reine Seele, eine ungetrübte Hoffnung, eine selbstlose Zuneigung bedeuten.

Selten spürt man die Flachheit eines allein auf das Hier und Jetzt bezogenen, allem Religiösen abholden Daseins einschneidender als zu Weihnachten. Die damit verwobene Wehmut wird im Getöse des Geschäftsrummels übertönt, in der Hektik des Abarbeitens aller gegenseitigen Glückwünsche verdrängt und mit der tollpatschigen Figur des Weihnachtsmannes übertüncht. Sie wird dadurch doch nie und nimmer getilgt. Wir wollen uns von dieser Wehmut verabschieden, hören wir die sich bockig allein auf das Diesseits gerichteten Verächter alles Religiösen verkünden. Sie haben recht, wenn sie auf die verheerende, blutige Geschichte der politischen Religionen hinweisen.

Keine der großen Glaubensgemeinschaften war in Phasen ihres Entwicklungsgangs davor gefeit, weltliche Herrschaft erlangen, Gewalt im Namen eines scheinbar göttlichen Auftrags ausüben und möglichst viele Menschen ihrem Diktat unterwerfen zu wollen. Und sie haben recht, wenn sie das Ziel verfolgen, man möge sich im öffentlichen und vor allem im politischen Leben auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eines vernünftigen und fairen Zusammenlebens beschränken, auf dass jeder dem anderen möglichst viel Freiheit gönne und ihn keinesfalls über Gebühr belästige, vor allem nicht mit seiner Weltanschauung.

Doch die Verächter alles Religiösen übersehen, dass es neben der politischen Religion auch – zumindest als Option – eine Religion gibt, die „nicht von dieser Welt“ ist, die nur dem Einzelnen und den ihm nahestehenden Gleichgesinnten, nicht aber einer großen Gruppe, gar einer anonymen Masse eigen ist, die ihm das Fundament gibt, „nach seiner Façon selig“ zu werden, ohne dass er Fremde davon überzeugen will. Außenstehenden mag er einer Marotte anzuhängen scheinen, er aber setzt darauf die Hoffnung seines Lebens.

Vor allem ist er sich gewiss, dass sich die allein auf das Diesseits Orientierten mit einer dem Verfall preisgegebenen, letztlich absurden Welt abfinden müssen. Die Wehmut, von der zuvor die Rede war, ersetzen sie durch stolzen Trotz. Er aber glaubt, das Absurde der Welt überwinden zu können, weil er auf die Begegnung mit dem Göttlichen hofft.

In mannigfacher Weise wird davon in mit Symbolen reichen Geschichten berichtet: Die Begegnung von Abraham am Hain Mamre mit den drei Männern ist eine von ihnen, das Herantreten von Moses auf dem Berg Horeb zu dem brennenden Dornbusch eine andere.
Eine der schönsten dieser Geschichten bezieht sich auf den Abend des heutigen Tages: Ihre Botschaft lautet, dass man sich dem Ewigen so nähern soll, wie einem eben zur Welt gekommenen Kind, symbolisiert in dem neugeborenen Heiland in Bethlehem. Vom Göttlichen selbst kann und darf man sich ja kein Bild machen. Aber die Ehrfurcht vor ihm gebietet es, das eigene Verhalten in der Begegnung mit ihm zu bedenken. Im Blick auf das strahlende Kind wird man sich dessen bewusst, was eine reine Seele, eine ungetrübte Hoffnung, eine selbstlose Zuneigung bedeuten, wie sehr wir uns dem Kind gegenüber von den Zwängen des Profanen befreien sollen und wie erbärmlich weit wir im Alltag des Irdischen noch davon entfernt sind.

Das Schöne dieser Geschichte ist, dass sie sich überhaupt nicht dazu eignet, einer politischen Religion dienlich zu sein. Dazu ist sie nämlich viel zu intim. Zugleich aber ist sie gefährdet, ins Bukolische, ins Sentimentale, ins Rührselige abzugleiten und damit ihren Bezug zur Transzendenz zu verlieren. Kaum gelingt es, dieser Gefährdung zu entkommen.

Am ehesten dadurch, dass man die Begegnung mit dem Kind als Begegnung mit dem Ewigen im Sinne des Meister Eckhart ernst nimmt, der in einer seiner Weihnachtspredigten die Hoffnung ausspricht, dass „der Gott, der heute von Neuem als Mensch geboren ist“, uns helfe, dass „wir armen Erdenkinder in ihm als Gott geboren werden“. Kein schlechter Wunsch am Weihnachtsabend.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Rudolf Taschner ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der Spieltheorie“, Hanser-Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2015)

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