Mitten im Krieg: „Nur immer vom Frischen anfangen zu denken . . .“

Aus den Notizbüchern Ludwig Wittgensteins entstand der „Tractatus logico-philosophicus“, die wichtigste philosophische Schrift des 20. Jahrhunderts.

Nach einer Unzahl von Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen und Büchern, die 2014 an den Beginn des verheerenden Ersten Weltkriegs erinnert haben, ist es in letzter Zeit ein wenig still um die Geschichte der Ereignisse vor hundert Jahren geworden. Tatsächlich aber tobten über mehr als vier Jahre die Kampfhandlungen mit ihren Hekatomben von Gefallenen. Die zu Beginn des Krieges gehegte Hoffnung zerbarst, er werde bloß ein kurzer Schlagabtausch sein, dem Deutsch-Französischen Krieg vergleichbar.

1916 machten sich nur noch Verblendete Hoffnungen auf einen „Siegfrieden“. Sicher nicht Ludwig Wittgenstein, einer der Söhne des immens reichen Stahlmagnaten Karl Wittgenstein, der ein Jahr vor Ausbruch des Krieges starb. Soweit man den Berichten trauen kann, hat sich der damals 25-jährige Ludwig nicht in der Emphase einer Siegesgewissheit, sondern in Ahnung der herannahenden Tragik aus Pflichtgefühl trotz Untauglichkeitsattests freiwillig zur Armee gemeldet und sich an der russischen und gegen Ende des Krieges an der italienischen Front waghalsigsten Unternehmungen unterzogen, wofür er hochdekoriert wurde.

Trotzdem hielt er während des gesamten Kriegs den Kontakt zu Bertrand Russell, seinem Lehrer in Cambridge, aufrecht. Das gelang ihm über Mittelsmänner im neutralen Norwegen, der Schweiz und des Vatikans, die ihm überdies ermöglichten, mit anderen Freunden aus den Ländern der Entente zu korrespondieren.

Unablässig nutzte er die Schlachtenpausen zur Lektüre des ihm lieb gewordenen Tolstoi und zur Niederschrift seiner Gedanken in Notizbüchern. 1916 vertiefte er sich in „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski und erblickte in der Figur des Mönchs Sossima das Ideal des erfüllten Lebens. Einige Passagen des Romans las er so oft, dass er sie auswendig konnte.

Das ist noch nichts Besonderes. In den Tornistern vieler Soldaten befand sich Literatur, die Trost in der Hölle der Schlachten und Schützengräben spenden sollte, zumeist die Bibel oder der „Zarathustra“ von Nietzsche. Auch dass Tagebuch geführt wurde, kam häufig vor.

Die Notizbücher des Ludwig Wittgenstein hingegen waren von einzigartiger Natur. Am 22. August 1914 begann er seine Aufzeichnungen mit dem lapidaren Satz: „Die Logik muss für sich selber sorgen.“ Er setzte damit ein Projekt völlig neuen Denkens in Gang.

Was er vor dem Krieg beim deutschen Logiker und Mathematiker Friedrich Gottlob Frege und beim Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell gelernt hatte, verarbeitete er auf beispiellos originelle Weise zu einer Abhandlung, die all das umfassen soll, was sich exakt, also mit der Methode der mathematischen Logik, beschreiben lässt. „Nur sich nicht um das kümmern, was man einmal geschrieben hat!“, lautet seine Devise, die er im November 1914 in sein Notizbuch schrieb: „Nur immer vom Frischen anfangen zu denken, als ob noch gar nichts geschehen wäre!“

Nach einer langen Eintragung im Juni 1915 herrscht eine monatelange Zäsur, bis am 15. April 1916 die folgenden lakonischen Sätze formuliert werden: „Nur was wir selbst konstruieren, können wir voraussehen! Aber wo bleibt da der Begriff des einfachen Gegenstandes? Dieser Begriff kommt hier überhaupt noch nicht in Betracht.“

Einige Wochen später geht er über die sich hieraus anschließenden methodischen Fragen hinaus. Er versucht, die Welt als Ganzes zu ertasten: „Ich weiß, dass diese Welt ist. Dass ich in ihr stehe, wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld. Dass etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn nennen. Dass dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr.“ Und kurz danach folgert er, dass „beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört zu sein“.

Dem französischen Gelehrten Blaise Pascal ebenbürtig fand Wittgenstein im mathematischen Denken, dem „esprit de géométrie“, und im „esprit de la finesse“ Zuflucht vor dem Irrsinn des Krieges.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier. Professor Taschner wird am 18. und am 20.Jänner um 19 Uhr im math.space im Museumsquartier den Vortrag „Wittgenstein – mitten im Krieg“ halten; Eintritt: fünf Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2016)

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