Der freie Wille und die vorschnelle Berufung auf die Neurophysiologie

Experimentell entlarvte Libet den freien Willen als Hirngespinst. Experimentell widerlegte Haynes Libet. Aber auch Haynes glaubt nicht an den freien Willen.

Der Leitgedanke des vom damals noch kaum bekannten Philosophen Richard David Precht verfassten Buches mit dem genialen Titel „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ war, die klassischen Probleme der Philosophie mit den Ergebnissen der modernen Hirnforschung in Verbindung zu setzen. Nicht nur der attraktive Buchumschlag, nicht nur der pfiffige Titel, auch dieses Programm verführte viele, zu dem Buch zu greifen.

Nachdem nämlich die Biologie, vornehmlich die Neurophysiologie, die Physik mit ihrer Relativitäts- und Quantentheorie als Leitwissenschaft abgelöst hat, meinen viele, die alten, ehrwürdigen Fragen, das menschliche Dasein betreffend, könnten nunmehr eher in Hinblick auf jene als auf diese beantwortet werden.

Ein Meilenstein der Hirnforschung war in dieser Hinsicht die 1979 von Benjamin Libet erdachte und durchgeführte Versuchsreihe. Das Ergebnis der Libet-Experimente schien nahezulegen: Schon bevor sich der Proband bewusst entscheidet, etwas zu tun (Libet ließ den Probanden die Hand bewegen), hat sein Gehirn diese Entscheidung unbewusst längst vorweggenommen.

Libet maß einerseits mit einem Enzephalogramm im Gehirn den Zeitpunkt der neuronalen Potenzialänderung, die die Handbewegung in Gang setzt, und forderte andererseits den Probanden auf, ihm den an einem schnell drehenden Uhrzeiger abgelesenen Zeitpunkt mitzuteilen, an dem er sich zur Handbewegung entschloss. Das Ergebnis war kurios: Die Aktivierung der motorischen Hirnregion erfolgte um einige Zehntelsekunden vor der bewussten Entscheidung.

Vor wenigen Tagen berichteten „FAZ“, „Berliner Zeitung“, „Daily Express“ und andere Blätter von Versuchen von John-Dylan Haynes an der Berliner Charité, wonach die aus dem Libet-Experimenten gezogene Folgerung, der Mensch bekäme seine Entscheidung durch das Gehirn diktiert, so nicht stimme. Denn Haynes hat mit noch raffinierteren Experimenten als Libet, seinen, wie er sagt, „wichtigsten Versuchen der vergangenen 30 Jahre“ gezeigt: Die dem Entschluss vorhergehende Potenzialänderung kann gleichsam verdrängt, die vermeintlich vorbestimmte Handlung noch willentlich und aktiv hintangehalten werden. „Die Libet-Experimente sind obsolet“, so John-Dylan Haynes.

Wie steht es nun um den freien Willen? Jene, die ihn für eine Illusion halten, fühlten sich durch Libets Versuchsserie bestätigt. Sind sie nun von Haynes widerlegt worden?

Haynes selbst verneint: „Trotz unserer Experimente glaube ich nicht an den freien Willen – allerdings aus anderen Gründen als Libet.“ In der Tat: Wer den freien Willen leugnet und Libet als Kronzeugen aufruft, klammert sich vorschnell an den falschen Strohhalm. Aber wer, wie offenkundig Haynes, einem naturalistischen Weltbild verpflichtet ist, findet für das Konzept des freien Willens trotzdem keinen Platz. Für ihn sind Gewissen, Schuldfähigkeit von Verbrechern, Großherzigkeit von Wohltätern Illusionen, soziologische Hilfsbegriffe ohne Fundament.

Für Haynes gibt es nur den Hirnzustand, der von den Genen, Umwelteinflüssen bis hin zu den Erfahrungen im Mutterleib gesteuert wird. Alles Geistige sei buchstäblich Hirngespinst.

Zweiflern am Naturalismus, Verteidigern des freien Willens – der Schreiber dieser Zeilen zählt sich zu ihnen – sind aber sowohl die Versuche von Libet als auch die von Haynes herzlich egal. Sie nehmen grundsätzlich eine Gegenposition zu Haynes und dem heute als Common Sense gehandelten Satz ein, alles sei Natur im Sinn von: Alles sei messbar.

Für sie ist im Gegenteil die Natur das Epiphänomen schlechthin und Berkeleys „esse est percipi“ die Bedingung der Möglichkeit des Denkens aus der Existenz heraus. Darauf, nicht auf die Natur, berufen sich das „deus et anima“ von Augustinus, die „raison de la finesse“ von Pascal und – auf den freien Willen gründend – das „Entweder – Oder“ von Kierkegaard.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2016)

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