Wer nur den „lieben Lehrer“ spielt, wird seine blauen Wunder erleben

Eine bittere, aber belegte Nachricht für all jene professoralen Schulexperten, die mit Alt-68er-Spätlese-Rezepten noch immer die Welt verbessern wollen.

Zugegeben, ich habe den Psychologieprofessor Philip Streit in seinem „Presse“-Interview (veröffentlicht am 16. 3.) nicht verstanden. Auf der einen Seite sagt er, es müsse „das Einverständnis geben, dass in der Schule die Lehrer Regeln aufstellen“. Aber auf der anderen Seite erklärt er blauäugig: „Strafen braucht es definitiv keine. Denn Härte erniedrigt und zerbricht Kinder.“

Wie einer Lehrerin, die den professoralen Schulexperten ernst nimmt, „das Senden klarer Botschaften bei aufrechter Beziehung“ gelingt, wenn ein frecher Pubertierender ihr vor der ganzen Klasse mit seinem Vater droht, der sie – natürlich in derber Sprache formuliert – intim belästigen werde, steht in den Sternen.

Herr Professor Streit tut es sich von seinem bequemen Lehrstuhl aus leicht, unverbindlich zu sülzen, es müssten Lehrer „bei schwierigem Verhalten Widerstand leisten“. Wie denn, fragt der Praktiker – und bekommt keine Antwort.

Aus der Spieltheorie ist bekannt, dass angemessenes Verhalten in der Gruppe nur mit der Androhung von Strafen erzielt werden kann. Ein Beispiel: In einer Gruppe von zwölf Leuten wird jeder aufgefordert, einen Obolus von zehn Euro in die Gemeinschaftskasse zu legen. Nach der Sammlung des Geldes wird dieses um die Hälfte vermehrt und diese Summe auf alle zwölf gleichmäßig aufgeteilt. Wenn alle mitmachen, kommt in der Kasse ein Betrag von 120 Euro zustande, der um 60 Euro auf 180 Euro erhöht wird. Jedes Gruppenmitglied bekommt 15 Euro ausbezahlt. Fünf Euro Gewinn für jeden.

Machen hingegen zwei der Gruppe nicht mit, kommt nur ein Betrag von 100 Euro zustande und die auf 150 Euro erhöhte Summe bringt jedem Gruppenmitglied eine Auszahlung von 12,50 Euro. Für die „Braven“ ist das mit 2,50 Euro nur mehr der halbe Gewinn von vorher, für die beiden „Schlimmen“ aber mit 12,50 Euro weit mehr als der doppelte Gewinn von vorher.

Man kann sehr schnell nachrechnen, dass es sich für die „Braven“ nicht mehr rentiert, den Obolus zu entrichten, wenn es vier oder sogar noch mehr „Schlimme“ gibt. Überhaupt ist es in jedem Fall vernünftig, „schlimm“ zu sein, denn ein „Schlimmer“ bekommt immer mehr ausbezahlt als ein „Braver“. Zum Schluss sind alle „schlimm“ – aber dann versiegt auch der Gewinn für alle.

Doch mit einem Trick kann man erreichen, dass wieder alle „brav“ investieren: Nach dem Einsammeln dürfen sich Gruppenmitglieder melden, die „Polizei“ spielen: Man muss zwar dem Spielleiter fünf Euro geben, damit man „Polizist“ sein darf, aber als solcher darf man auf einen „Schlimmen“ zeigen und ihn zur Zahlung einer Strafe von 20 Euro verdonnern, weil er beim Einsammeln den Obolus verweigert hat. Unzählige Experimente bestätigten: Das wirkt. Die Leute spielen mit Begeisterung „Polizisten“, und die „Moral“ der Gruppe wird wie von selbst gehoben.

Einmal fragte ich einen Experten der Spieltheorie, ob nicht auch die „sanfte Pädagogik“ wirkt: Statt „Polizist“ zu spielen, soll man „lieber Lehrer“ spielen dürfen: Man verschont zwar die „Schlimmen“, aber belohnt die „Braven“ mit einer Zusatzzahlung von einem Euro.

Nur, das wirkt gar nicht. Die Gruppenmitglieder pfeifen auf die Belohnung, wenn sich „Schlimm“-Sein mehr rentiert. Keine gute Nachricht für professorale Schulexperten, die mit ihren Alt-68er-Spätlese-Rezepten noch immer die Welt verbessern wollen.

Wenn es um die Ich-Du-Beziehung ginge, hätten sie ja recht: In einer solchen innigen Beziehung soll sich das Du nicht vor einem launischen Ich, auch nicht vor einem strafenden Ich fürchten, sondern auf das wohlgesonnene Ich hoffen dürfen, auch wenn es sich um ein Schüler-Meister-Verhältnis handelt.

Was aber für die Seele richtig ist, kann sich bei gruppendynamischen Prozessen als unzureichend erweisen. Bei ihnen kommt es darauf an, dass man sich zueinander korrekt verhält – mit all dem, was an Androhung von Sanktionen bei Nichtbefolgung dazugehört.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2016)

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