Wir erleben die gefährlichen Jahre der schrecklichen Verkomplizierer

Welche Fragen werden die Nachfahren der heutigen Zeitzeugen stellen? Mit der Ausflucht, es war damals alles zu kompliziert, wird sich niemand zufriedengeben.

Was habt ihr damals getan?“, werden in 50 und mehr Jahren die Nachfahren der heutigen Zeitzeugen fragen. Wenn es besonders tragisch verlaufen sollte, möglicherweise gar nicht mehr in Europa, weil dieses Wort zu einem geografischen Begriff herabgesunken ist und den dann noch dort Lebenden eine solche Frage gar nicht erlaubt sein wird. Sondern in Gegenden, wohin sich die Klugen und mit dem nötigen Kleingeld Versorgten unter den heutigen Zeitzeugen zurückziehen konnten.

Selbst wenn es glimpflich verlaufen sollte, wird in 50 oder mehr Jahren das Bild Europas nicht mit jenen Entwürfen übereinstimmen, die man sich in den glücklichen Tagen knapp nach der Wende zum neuen Jahrtausend vorgaukelte, als Francis Fukuyama von einer Vollendung der Geschichte, vom Siegeszug der Demokratie und der prosperierenden Marktwirtschaft schwärmte.

Die Zeichen stehen an der Wand. Jeder weiß es. Keiner will sie lesen.

„Habt ihr nicht gemerkt“, hören wir die Fragen der Nachfahren in 50 und mehr Jahren, „dass ein offenkundig überforderter französischer Präsident sein Land, von demografischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen bedrängt, nicht vom Kurs gegen die Wand retten kann? Nicht Griechenland, sondern ein Kernland des Kontinents! Voll von Demonstranten, die nicht Zukunft, sondern Zerstörung wollen! Voll von gescheiterten Irrläufern, die von einer politischen Religion getrieben ziellos morden! Wart ihr von der verständlichen Euphorie wegen einer Europameisterschaft im Fußball so verblendet?“

„Habt ihr euch nicht gewundert“, hören wir sie weiterfragen, „wie es dazu kommen konnte, dass der britische Premierminister eine Entscheidung seines Volkes für den Verbleib in der Europäischen Union ansetzte, weil er von einem überwältigendem Votum dafür ausgegangen war und sich darin schwer getäuscht hat? Warum wollte niemand in Brüssel die Fehler europäischer Politik suchen, die dazu führten, dass in einem Mitgliedstaat, dessen Volk über Verbleib oder Austritt abstimmen darf, eine so energische Austrittsbewegung Fuß fassen konnte? Warum besaß das Gefährt Europäische Union keinen Rückwärtsgang?“

„Warum“, so lautet eine weitere bohrende Frage, „konnte sich die EU, die doch dafür geschaffen war, Aufgaben zu lösen, die einzelne Mitgliedstaaten überfordern, nicht zu massiven Infrastrukturprogrammen für die zum Teil zu gescheiterten Staaten gewordenen Landstriche Afrikas aufraffen? Warum beschloss die EU nicht, solche Aufbau- und Bildungsmaßnahmen effizient und rigoros beaufsichtigt an diesen Orten wirken zu lassen? Warum hat Europa nicht verstanden, dass nur damit die Flutwelle einer Einwanderung ungebildeter Völkerscharen aufzuhalten ist? Warum hat die deutsche Bundeskanzlerin nicht in Hinblick auf solche Maßnahmen gesagt: ,Wir schaffen das‘?“

„Warum“, so lautet die vielleicht bitterste Frage, „habt ihr aus falscher Duldsamkeit die Ideale der Aufklärung zugunsten radikaler und mit Gewalt gepaarter Atavismen verraten und euren Mitbürgern sowie schließlich euch selbst vorgegaukelt, es handle es sich bloß um marginale Auswüchse einer importierten ,Kultur‘, die voll zu respektieren sei?“

Die Ausflucht – „Es war eben alles sehr kompliziert“ – hören wir jetzt schon von all jenen, die auf diese Fragen antworten sollten. „Wer darauf einfache und eingängige Antworten parat hat, ist ein ,Terrible simplificateur‘, ein schrecklicher Vereinfacher. Wir haben doch aus der Geschichte gelernt, dass man diesen nicht trauen darf.“

Doch die Lehre aus der Geschichte lautet anders: Schreckliche Vereinfacher sind tollkühn und kurzatmig. Ihnen fehlen Weitblick, Mut und Verantwortungsbewusstsein. Einer Persönlichkeit mit diesen drei Tugenden darf man sehr wohl trauen. Auch wenn sie einfach klingende Maßnahmen trifft. „Wo war denn diese Persönlichkeit?“, hören wir die Nachfahren fragen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2016)

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