Nicht auf das Trainieren, auf echtes Verstehen soll Unterricht abzielen

Auf Rechenfehler kommt es in der Mathematik überhaupt nicht an. Nur auf das Verstehen. Je mehr in die Breite und Tiefe dieses Verstehen geht, umso besser.


Ich fahre mit der Durchschnittsgeschwindigkeit von 120 km/h von Wien nach Amstetten (das 120 km von Wien entfernt ist). Bei der Reise von Amstetten zurück nach Wien komme ich (wegen Stauverkehrs) nur auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h. Wie groß ist daher die Durchschnittsgeschwindigkeit der gesamten Reise tour-retour?

Wer mit dem arithmetischen Mittel von 120 und 60, also mit 90 antwortet, hat unrecht. Auch wenn er, wie eine Minderheit der 15-jährigen Österreicher, schon etwas vom arithmetischen Mittel gehört hat. Dies berichtete „Die Presse“ unter der Schlagzeile „Österreichische Schüler haben weniger Mathe als andere“: Der Umfang des Mathematikunterrichts in Österreich ist geringer als in vielen anderen Staaten der Welt, „53 Prozent der 15-Jährigen in Österreich haben noch nie etwas vom arithmetischen Mittel gehört (OECD-Schnitt: 31 Prozent), nur 15 Prozent verstehen das Konzept gut (OECD-Schnitt: 29 Prozent).“ Was versteht die OECD unter dem „guten Verstehen“ eines mathematischen Begriffs?

In der gegenwärtig grassierenden und von der OECD mit ihren standardisierten Tests à la Pisa geförderten Kompetenzhörigkeit wohl nur, dass man mit diesem Begriff umgehen und auf ihn zugeschnittene Aufgaben lösen kann. Dagegen ist nichts zu sagen – nur dass es nicht einmal die halbe Miete ist.

Verstehen bedeutet in der Mathematik viel mehr als die bloße Anwendung eines Begriffs zur Lösung von Testaufgaben. Doch der Mathematikunterricht in den Schulen droht sich allein darauf auszurichten: „Welche Beispieltypen kommen zum Examen?“, fragen Schüler angesichts ihrer Tests. Nicht, woher ein Begriff kommt, welches historische Umfeld ihn hervorgebracht, welche mathematischen Koryphäen sich mit ihm auseinandergesetzt haben (beim arithmetischen Mittel im Zusammenhang mit anderen Mitteln zum Beispiel Gauß, der größte Mathematiker der Neuzeit).

All diese Vernetzungen diversester mathematischer Bereiche und darüber hinaus, all diese Ingredienzen echten Verstehens bleiben jenen verborgen, die in das enge Bildungskorsett der OECD gepresst sind – einer Organisation, die allein von ökonomischer, dem Streben nach Nutzen ausgerichteter Warte aus argumentiert.

Allein im Sinn der OECD den Umfang des Mathematikunterrichts zur Steigerung der Kompetenzen zu erhöhen, wird Österreich nicht voranbringen. Die Emsigkeit beim Schliff der Kompetenzen, die in ehrgeizigen und ihre Kinder drillenden Staaten wie Südkorea vorherrscht, werden wir nie erreichen – und sollten wir auch gar nicht erreichen wollen.

Nicht auf oberflächliches Trainieren, auf echtes Verstehen soll der Unterricht zielen. Dieser Vorsatz soll Österreichs Schulen auszeichnen. Das Projekt Math.space im Wiener Museumsquartier zeigt einen die Orientierung auf Kompetenzen ergänzenden Zugang zur Mathematik auf. Lehrerinnen und Lehrer kommen mit ihren Klassen gern zu Math.space, weil dort das Fach so vorgestellt wird, dass viele ihrer Schülerinnen und Schüler echtes Interesse daran gewinnen, ja sogar die Wahl des künftigen Berufs danach ausrichten.

Was die zu Beginn genannte Frage betrifft: Die richtige Antwort lautet 80 km/h. Man muss nämlich bei einem Beispiel dieser Art statt des arithmetischen das harmonische Mittel heranziehen. Für allein auf Kompetenzen ausgerichtete Schmalspurdenker genügt diese Information. Für jene aber, die verstehen wollen, muss man erklären, warum dies so der Fall ist. Und warum das hier heranzuziehende Mittel just harmonisch heißt. Welcher Bezug zur Musik besteht.

All dies wäre einen eigenen Vortrag wert. Es zu wissen verhindert zwar nicht, dass einem noch immer Rechenfehler unterlaufen können. Aber darauf kommt es in der Mathematik überhaupt nicht an: nur auf das Verstehen – je mehr in die Breite und Tiefe gehend, umso besser.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2016)

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