Tage, an denen wir wieder von Neuem anfangen zu lesen – 2. Teil

Über John le Carré, den Erfinder von George Smiley, der den spannenden Spionagethriller zum Bildungs- und Entwicklungsroman veredelte.

Was nach der Abstimmung der Briten über ihren Verbleib in der Europäischen Union am meisten verwunderte, war die Reaktion einiger Kontinentaleuropäer, die nicht verstanden, dass die Bevölkerung jenseits des Ärmelkanals trotz drohender wirtschaftlicher Nachteile der genialen Devise „We want to get back control“ der Brexit-Befürworter Glauben schenkte.

Aus ihr spricht der Stolz einer Nation, die noch vor einem Jahrhundert als größte je auf Erden existierende Macht weltbeherrschend war. Nie hatte dieses Land seit 1066 das Eindringen fremder Mächte erlebt; seine Sprache ist zur Lingua franca geworden, und seine Lebensart ist einzigartig.

All dessen muss man sich auch bewusst sein, wenn man zu den frühen Romanen von John le Carré greift – jenen, in denen der zwar äußerlich ein wenig tollpatschig scheinende, aber hochintelligente und mit allen Wassern des Geschäfts der Geheimdienste gewaschene George Smiley auftritt. Er ist ein zwischen der Loyalität zu seinem Land, dessen Bedeutung und Größe er mit Bedauern schwinden sieht, und den moralischen Skrupeln, die ihm sein schmutziges Geschäft auferlegt, schwankender Antiheld; das pure, aber dafür authentische Gegenbild zum smarten James Bond.

George Smiley versteht sogar die Motive des Verräters Bill Haydon, des in der höchsten Etage des Dienstes agierenden Maulwurfs, weil Haydon wie Smiley am Verfall des British Empire leidet. Haydon aber ergreift im Gegensatz zu Smiley die Initiative, weil er dem Verfall Großbritanniens zum Pudel der neuen Großmacht USA Einhalt gebieten will. „We want to get back control.“ Halsstarrige Agenten des Geheimdienstes hätten die Devise schon damals befürwortet.

Weniger die äußeren Geschehnisse, vielmehr die inneren Monologe Smileys und die langsam und sorgfältig geplanten Enthüllungen der Charaktere im Zuge der Einvernahmen, die Smiley gekonnt inszeniert, fesseln bei der Lektüre: Wir verstehen, warum Menschen so werden konnten, wie sie nun sind, selbst wenn sie die schändlichsten Untaten verüben. Der Roman „Dame, König, Ass, Spion“, in dem Smiley seinen alten Freund Haydon als Doppelagent entlarvt, beginnt mit einer wunderbaren Schilderung der Aufnahme eines neuen Lehrers – in Wahrheit eines ausgedienten Agenten – in einer Internatsschule.

Für die alteingesessenen Kollegen war er, so schreibt le Carré, „ein armer Weißer aus dem Schulmeisterstand. Er gehörte der gleichen traurigen Gilde an wie die selige Mrs. Loveday, die einen Persischlamm-Mantel getragen und den Religionsunterricht in der Unterstufe erteilt hatte, bis ihre Schecks platzten; oder wie der selige Mr. Maltby, der Klavierlehrer, der mitten aus einer Chorübung abberufen worden war, um der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein, und ihr, nach allem was man wusste, noch heute behilflich war.“ Den Gefängnisaufenthalt mit einem Der-Polizei-behilflich-Sein zu umschreiben, ist Subtilität vom Feinsten. An fast jeder Seite von Smiley-Romanen kann man sich ihrer erfreuen.

Damit einher geht die fast fürsorglich zu bezeichnende Nachzeichnung der Charaktere. Eben hier des neuen Lehrers Jim Prideaux, der ganz anders als die üblichen Schulmeister ist, aus der Sicht des Schülers Bill Roach, eines Außenseiters und Scheidungskindes. Am Ende des Romans taucht Roach wieder auf – reifer geworden, und auch Jim Prideaux, Roachs Lehrer und Vorbild, der, so fühlt Roach, ein tiefes Geheimnis in sich verbirgt.

Gottlob, so verlotterte Schulen wie zur Zeit der Romanhandlung gibt es nicht mehr, weder in England noch in Österreich. Aber es gibt, so dürfen wir hoffen, immer noch die sensiblen Kinder, die vorbildhaften Lehrer und die von Gewissensqualen und der Bürde der Tradition belasteten geistigen Nachfahren Smileys. Wie es mit Sicherheit die eiskalten und skrupellosen Hasardeure im politischen Spiel weiterhin geben wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)

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