Tage, an denen wir wieder von Neuem zu lesen anfangen – 3. Teil

Über Albert Camus, der über eine entsetzliche Seuche schreibt, die jeden angeht, die jeder fürchtet und an der jeder zugrunde gehen kann.

Wann genau sich die Ereignisse, über die der Autor berichtet, zugetragen haben, wird nicht verraten; er nennt kryptisch das Jahr 194 . , aber es könnte sich auch um ein ganz anderes Jahr der Weltgeschichte handeln. Der Ort der Ereignisse wird zwar benannt, es ist Oran, Hafenstadt im damals noch französischen Algerien.

Aber auch auf die genaue Lokalisierung kommt es dem Autor im Grunde nicht an; es könnte auch eine andere Stadt an der Mittelmeerküste dafür herhalten, Nizza zum Beispiel. Ja man könnte die Stadt durch ein ganzes Land, durch Frankreich, durch einen ganzen Kontinent, durch Europa ersetzen – das, worauf es bei der Erzählung der Ereignisse ankommt, wäre davon nicht berührt.

Die Ereignisse, von denen der Autor erzählt, werden durch den eigenartigen Ausbruch einer Seuche in Gang gesetzt: Knapp vor Beginn des Sommers, als in Oran die Menschen mit der Bewältigung ihres Alltags, erfüllt vom geheimen Wunsch, doch noch ein wenig vom kleinen Glück zu erhaschen, wie eh und je beschäftigt sind, bringen in Höfen und auf Straßen verendende Ratten die Pest, und die furchtbare Krankheit fordert ihre ersten Opfer.

Anfangs sind es nur vereinzelte Opfer. Allein die nähere Nachbarschaft nimmt Kenntnis davon, dann aber immer mehr und mehr, bis die Krankenlager in der Hitze des Sommers von den an schmerzhaften Beulen und atemraubendem Fieber Leidenden und mit dem Tode Ringenden überfüllt sind.

Jeder, der den 1947 erschienenen Roman „Die Pest“ las, wusste, dass sein Autor, Albert Camus, mit der Seuche den Nationalsozialismus im Auge hatte. Doch es wäre zu kurz gedacht, würde man allein diese Deutung zulassen. Denn dann wäre der Roman von Camus an die damalige Zeit gebunden und ginge uns Heutige nichts an. Beim Wiederlesen erkennt man jedoch sehr rasch seine Zeitlosigkeit, geschrieben in kühler Klarheit und fast erschreckender Einfachheit, mit Kafkas „Prozess“ in einer Reihe stehend. Und es wird deutlich, dass die Pest verschiedene Gesichter hat. Heute trägt sie die Fratze der vom Islamischen Staat und seiner Ideologie gezüchteten Massenmörder.

Bezeichnend ist, dass die Behörden von Oran es nicht wagten, die Krankheit beim Namen zu nennen. Über Beileidsbekundungen bei den Anverwandten der ersten Todesopfer, über Beschwichtigungen und Verharmlosungen kamen sie anfangs nicht hinaus. Als bei einer Sitzung zum ersten Mal das Wort Pest fiel, war der Teufel los: „Der Präfekt sprang auf und wandte sich unwillkürlich zur Tür, als wollte er sich vergewissern, dass sie diese Ungeheuerlichkeit daran hinderte, in die Gänge hinauszudringen. Richard erklärte, dass man sich seiner Meinung nach nicht ins Bockshorn jagen lassen dürfe; es handle sich um ein Fieber mit Komplikationen in den Leisten, das sei alles, was man sagen könne.“

Nach langem Hin und Her stellte der Held des Romans, Doktor Rieux, lakonisch fest, dass man rasch und wirksam handeln müsse, egal wie man die Krankheit bezeichnet: „Folglich ist es ganz unwichtig, ob Sie sie Pest oder Wachstumsfieber nennen, wichtig ist nur, dass Sie sie hindern, die halbe Stadt zu töten.“

Dementsprechend kommen bei Camus nicht Behörden, sondern Individuen – Camus beschreibt jede einzelne Person seines Romans feinfühlig – mit der Pest in Berührung, zerbrechen an ihr oder vermögen der von ihr ausgehenden Gefahr zu trotzen.

Dieser scharfe Blick auf den Einzelnen, der die vom Existenzialismus begeisterten jungen Menschen in den Jahrzehnten nach 1945 so beeindruckte und in ihrer Lebensgestaltung beflügelte, ist heute ein wenig verloren gegangen. Auf Einzelpersonen wie zum Beispiel Doktor Rieux, die sich ihrer Verantwortung und Pflicht bewusst sind, muss man setzen, wenn man die Pest bekämpfen möchte – und auf das wirksame Serum, das im Roman ein Kollege von Rieux entwickelte. Es existiert auch, wenn die Pest eine andere Maske trägt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2016)

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