Tage, an denen wir wieder von Neuem zu lesen anfangen – 4. Teil

Über Hugo von Hofmannsthal, dem man Unrecht tut, wenn man allein den „Jedermann“, das Paradedrama der Salzburger Festspiele, mit ihm verbindet.

Was will mein Gott von mir?“, fragt in den nächsten Tagen vor dem Dom von Salzburg der plötzlich mit dem Tod konfrontierte Jedermann. Und der Tod antwortet in Hofmannsthals Bühnenwerk: „Das will ich dich weisen. Abrechnung will er halten mit dir.“

Wohliger Schauer mag sich in diesen Augenblicken über den Domplatz verbreiten, aber mit Sicherheit so wohlig, dass niemand im Publikum wirklich Angst um sein Seelenheil empfindet. Dazu ist das mit Pathos und Kitsch durchwirkte „Spiel vom reichen Mann“ in seiner noch von argloser Gläubigkeit geprägten Einfalt uns Heutigen zu sehr entrückt. Dies war es bereits bei der Uraufführung, als die Kritiker dem Werk eine kurze Lebensdauer prophezeiten und ihm „literarische und weltanschauliche Nichtswürdigkeit“ attestierten.

Mag sein, dass das fremdartig altertümlich und zugleich erlesen tönende Wortgeklingel so zu beeindrucken versteht, dass man dessen läppischen Inhalt gern überhört. Vielleicht liegt, wie Sven-Eric Bechtolf meint, in der vorsätzlichen Naivität des Stückes sein Raffinement. Es mag wohl Hofmannsthals bekanntestes Werk sein, aber es ist sicher nicht sein bestes – ja selbst weit davon entfernt, ein gutes aus seinem reichen Œuvre zu sein.

Am liebsten greife ich zu den frühen Schriften Hofmannsthals, vor allem zu den 1894, nach dem Tod seiner mütterlichen Freundin, Josephine von Wertheimstein, verfassten Terzinen. Hier griff er auf die einst von Dante für dessen „Göttliche Komödie“ erfundene Strophenform zurück, wandelt sie jedoch eigenwillig und mit großer Finesse ab.

Hofmannsthal war damals erst 20 Jahre alt, zwei Jahre zuvor hatte er am Akademischen Gymnasium in Wien mit Auszeichnung maturiert. Und er hatte damals alles, wirklich alles gelesen, was der großen antiken, französischen, englischen, italienischen, spanischen und deutschen Literatur entstammt – auch die Russen kannte er schon als halbes Kind.

Sicher, er war ein einzigartiges Ausnahmetalent. Der zwölf Jahre ältere Arthur Schnitzler, ein strenger Beurteiler seiner Konkurrenz, erkannte es bereits seit der ersten Begegnung. Trotzdem veranlasst der Vergleich von heute zu der Zeit von vor 125 Jahren zum Nachdenken: Damals gab es einen, zugegeben: hochtalentierte, Maturanten, dessen Leseliste, so er diese lückenlos hätte aufstellen sollen, die großen Werke der gesamten europäischen Literatur seit der Antike umfasste. Und heute kennt man den Begriff der Leseliste praktisch gar nicht mehr.

In einer Art Verdrängung scheinen die Gestalter des Unterrichts gar nicht mehr fühlen zu wollen, wie viel wertvolles Wissen sie durch die Verkürzung auf das Aktuelle den jungen Menschen vorenthalten. So wäre es kein Wunder, wenn nur mehr ganz wenige der heutigen Maturanten wissen, dass ein Brief Hofmannsthals das begründete, was wir die Moderne nennen.

Es fiele ihnen auch schwer, diesen Brief des Philipp Lord Chandos zu lesen, da dieser zu Beginn, wie Klaus Böldl treffend feststellte, Kaskaden von „komisch-verzweifelt gestikulierenden Wörtern“ auf den Leser niederprasseln lässt.

Solang niederprasseln lässt, bis endlich Hofmannsthal in der Maske des Lord Chandos zum Wesentlichen kommt: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mit völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Hofmannsthal empfand, wie die abstrakten Worte, „deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben“, ihm „im Munde wie modrige Pilze zerfielen“. Die Wirbel der Sprache führen ins Bodenlose.

Als vor rund 15Jahren die „FAZ“ Schriftsteller bat, aus ihrer heutigen Sicht Lord Chandos auf seinen Brief zu antworten, war es, so Rüdiger Görner, erschreckend, dass nur ganz „wenige von ihnen dem Ausmaß dieser Aufgabe wirklich gerecht geworden sind“. Auch der Brief des Lord Chandos wird verdrängt. Man hat ja den „Jedermann“.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2016)

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