Ein mathematischer Maulheld von beeindruckender Intuition

Neben einem bloß vorläufigen Glauben gibt es in der Mathematik auch einen echten Glauben, der niemals durch Wissen ersetzt werden kann.

Auf den ersten Blick scheint Mathematik mit dem Glauben ganz und gar nichts zu tun zu haben: auf der einen Seite das Beweisbare und auf der anderen Seite die unbegründete Behauptung – wie passt das zusammen?

Doch bei näherer Betrachtung gibt es doch Querverbindungen, die man an zwei Geistesgrößen, die eine im 17., die andere im 20. Jahrhundert lebend, paradigmatisch erkennen kann: Am 11. und am 12. Oktober werde ich um 19 Uhr im math.space im Wiener Museumsquartier den ersten von drei geplanten Vorträgen über Pierre de Fermat halten, den sein Zeitgenosse René Descartes spöttisch einen Maulhelden genannt hat. Darum heißt der Titel dieser Vortragsreihe „Der mathematische Maulheld“.

Descartes dürfte dieses herabwürdigende Wort deshalb auf Fermat gemünzt haben, weil dieser eine Fülle beeindruckender und eigenartiger mathematischer Behauptungen aufgestellt hat, ohne zu verraten, wie er zu seinen Erkenntnissen gelangt ist. Nur bei einer der von ihm entdeckten kuriosen Zahlenbeziehungen verriet er uns den von ihm gefundenen Beweis, der tatsächlich von außerordentlicher gedanklicher Tiefe ist.

Bei allen anderen beließ er es bei Beteuerungen. Descartes, der im Innersten wusste, dass ihm Fermat an mathematischem Witz haushoch überlegen war, machte seinem neidischen Ärger dadurch Luft, dass er den eigenbrötlerischen Privatgelehrten in Toulouse als Aufschneider denunzierte.

Bei einer seiner Behauptungen, die man „den großen Fermat“ nennt, schrieb Fermat als Randnotiz, dass er dafür einen „geradezu wunderbaren Beweis“ entdeckt habe, aber diesen auf dem gerade zur Verfügung stehenden Platz nicht unterbringe. Mit großer Sicherheit dürfte er bald erkannt haben, dass sein „wunderbarer Beweis“ fehlerhaft war, aber Fermat vergaß, diese Randnotiz zu korrigieren. Die Behauptung selbst ist trotzdem korrekt. Ende des 20. Jahrhunderts wurde sie von Andrew Wiles bewiesen.

Im Zusammenhang mit dem Glauben ist eine andere Vermutung von Fermat interessant, die er in einem Brief an einen seiner Freunde äußerte:

Er glaube – Pierre de Fermat betont, dass er keinen Beweis kennt, aber er vertraut auf seine Intuition – dass die Folge der Zahlen 3, 5, 17, 257, 65537, 4294967297 aus lauter Primzahlen besteht. (Man erhält die jeweils nachfolgende Zahl, indem man von der vorhergehenden 1 subtrahiert, danach quadriert und das Quadrat wieder um 1 vermehrt.) Von 3, 5, 17, 257, 65537 wusste Fermat, dass er recht hat. Bei 4294967297 glaubte er, es sei Primzahl. Ein bloß vorläufiger Glaube. Das Bestreben der Mathematiker beruht darauf, ihn durch Wissen zu ersetzen. An dieser Stelle betritt der zweite Held die Bühne: der österreichische Mathematiker Kurt Gödel.

Zu seiner Zeit war die Mathematik so weit entwickelt, dass man sie wie ein formvollendetes Spiel, gründend auf willkürlich gesetzten Regeln, sogenannten Axiomen, verstand. Alle mit dem Unendlichen einhergehenden dunklen Konzepte bildeten nun in dem mathematischen Sprachspiel wohldefinierte „Spielfiguren“. Allein, es fehlte der Beweis, dass dieses Spiel keine logischen Widersprüche in sich birgt.

Der ungeheuer raffiniert denkende Gödel zeigte unwiderlegbar, dass ein derartiger Beweis nicht erbracht werden kann, wenn das Spiel tatsächlich widerspruchsfrei ist. Und dass es widerspruchsfrei ist, daran glaubt Gödel genauso wie fast alle anderen Mathematiker. Dies aber ist echter Glaube, wenn auch nicht das Seelenheil wert. Denn wir wissen, dass er nie durch Wissen ersetzt werden kann.

Zwei Kuriosa am Schluss. Gödel bewies nicht nur, dass kein Beweis der Widerspruchsfreiheit der formalen Mathematik existiert. Er bewies mit der gleichen logischen Strenge, dass Gott existiert. Allerdings ein Gott, der mit dem Glauben nichts zu tun hat.

Und Fermat irrte in seinem Glauben: 4294967297 ist durch 641 teilbar.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

Soeben ist sein neues Buch „Woran glauben – 10 Angebote für aufgeklärte Menschen“ (Brandstätter Verlag) erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2016)

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