Nimbus der Nobelpreise schwindet, aber Bedeutung der Patente wächst

Die Erkenntnisse der Nobelpreisträger von einst haben die Erfindungen von heute ermöglicht – und zugleich die Gewichte des Interesses verschoben.

Hans-Ulrich Gumbrecht, Professor an der Stanford University, bemerkte unlängst, dass es eigenartig sei, wie sehr sich der Nimbus des Nobelpreises für die naturwissenschaftlichen Fächer Physik, Chemie und Medizin im Laufe der Zeit gewandelt habe. Noch heute weiß man um die überragende Bedeutung Wilhelm Conrad Röntgens, des ersten Nobelpreisträgers für Physik, Bescheid – er hätte ihn gleichermaßen auch für die Medizin verdient.

Auch die Namen der Medizinnobelpreisträger Robert Koch (1905), Paul Ehrlich (1908), Karl Landsteiner (1930), Otto Loewi (1936) oder Alexander Fleming (1945) sind immer noch präsent. Ähnliches kann man von den frühen Nobelpreisträgern der Chemie behaupten: Ernest Rutherford (1908), Marie Curie (1911), Fritz Haber (1918), Otto Hahn (1944), Linus Pauling (1954) – die Liste ist naturgemäß bruchstückhaft.

Besonders zeigt sich die nachhaltige Wirkung der Leistungen der frühen mit dem Nobelpreis für Physik Geehrten wie Max von Laue (1914), Albert Einstein (1921), Niels Bohr (1922), Werner Heisenberg (1932), Erwin Schrödinger (1933), Wolfgang Pauli (1945). Dies sind nur einige der Namen von Persönlichkeiten, über die nicht nur wegen ihrer fachlichen Leistungen auch noch Jahrzehnte nach ihrem Wirken gesprochen wird, sondern auch, weil sie als eminente Gelehrte weit über ihren engen Fachbereich hinauswirkten und auch von Fachfremden mit Hochachtung genannt werden.

Bei den Nobelpreisträgern der vergangenen Dezennien ist dies, so stellte Gumbrecht fest, nicht mehr so der Fall. Schon ein, zwei Jahre nach der Preisübergabe wissen nur mehr wenige – sogar nur wenige in Fachkreisen – wie die Namen der Gekürten lauten und welche Leistungen mit Personen wie Hiroshi Amano, Stefan W. Hell oder May-Britt Moser zu verbinden sind.

Dies besagt natürlich nicht, dass die von den heutigen Nobelpreisträgern erbrachten Arbeiten den Vergleich zu den Meriten der Gelehrten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu scheuen hätten. Es mag vielmehr mit einem Wandel im Wissenschaftsbetrieb als solchem zusammenhängen: Damals, vor 80 Jahren, ging es in der Physik um Erkenntnisse, die am Fundament dieser Wissenschaft rüttelten, damals mündeten diese Einsichten in ein völlig neues Verstehen der Molekülstrukturen und der chemischen Bindung, damals konnten Mediziner von den Umwälzungen der Chemie aus dem Vollen schöpfen. Damals erklomm man gleichsam einen Gipfel nach dem anderen, während man jetzt in den Mühen der Ebene angelangt ist.

Schließlich erkennt Gumbrecht, dass im gleichen Maß, wie die Aureole des Nobelpreises abnimmt, die Wertschätzung von Patenten, die zu einschneidenden technischen Neuerungen führen, rasant wächst. Es ist anzunehmen, dass noch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die Namen von Bill Gates, Steve Jobs oder Elon Musk so in Erinnerung sein werden, wie wir heute die Nobelpreisträger von einst noch kennen. Die Erkenntnis von einst hat die Erfindung von heute ermöglicht und zugleich die Gewichte des Interesses verschoben.

Ganz ähnlich wie im Altertum, als das reine Denken der abgehobenen griechischen Philosophie vom pragmatischen Denken der zupackenden römischen Staats- und Rechtsarchitekten und Politiker abgelöst wurde.

Die Lehre, die aus der klugen Beobachtung Gumbrechts zu ziehen ist, besteht in einer Anpassung des Unterrichts der jungen Menschen in Schulen und Universitäten an diesen Trend: Wollen wir den Anschluss nicht verpassen, haben wir die Förderung des kreativen, erfinderischen Denkens in den von Naturwissenschaft und Technik geprägten Disziplinen ins Zentrum zu stellen.

Aber zugleich darf das von den Gelehrten früherer Zeiten hervorgebrachte Wissen nicht vergessen werden. Denn ohne Einwurzelung in ein Fundament bringt man nur Scheinkreativität zustande, die wie eine Seifenblase zerplatzt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und betreibt gemeinsam mit Kollegen das math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2016)

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