Die geschichtsträchtigen 17er-Jahre 1517: Geburtswehen der Aufklärung

Luther forderte nicht die Elite, sondern das Volk auf, sich des eigenen Verstandes zu bedienen - und verkündete: Jeder sei ein freier Mensch und niemandem untertan.

Obwohl durch nichts belegt, vermuten wir doch, dass den Zahlen Symbolkraft innewohnt. So hat die Zahl 17, römisch XVII geschrieben, das man zu VIXI, lateinisch für: Ich habe gelebt, umstellen kann, unheilschwangere Bedeutung: Die Siebzehnerjahre mögen den Beginn von Umwälzungen markieren. In meinen letzten drei „Quergeschrieben“ vor Jahresbeginn 2017 spreche ich dies anhand der Jahre 1517, 1717 und 1917 – immer im Bezug zur Gegenwart – an, wobei auch die Jahre 1617 und 1817 den Keim historischer Wenden in sich tragen:

1617 ist das Jahr der Krönung des Habsburgers Ferdinand II. zum König von Böhmen, eines prüden und bigotten Protestantenhassers. Seine von katholischer Ideologie getriebene Politik mündete geradewegs in den verheerenden Dreißigjährigen Krieg. 1817 ist das Jahr des Wartburgfestes: Wenn sich die Franzosen einer Nation zugehörig fühlen, so können dies die Deutschen auch. Dies war die Devise des damals aufkeimenden Strebens, „Ein (sic!) Volk zu werden“, begleitet von Verbrennungen jener Bücher, die das bunte Bild der vielen kleinen deutschen Staaten verteidigten. Was sich daraus entwickelt hat, wissen wir.

Nun, in diesem ersten Teil, aber 1517. Nicht von ungefähr hängen damit die beiden genannten Ereignisse von 1617 und 1817 zusammen. Denn 1517 ist das Jahr Martin Luthers, eines Giganten, nicht nur körperlich, sondern auch der europäischen Geschichte. Am 31. Oktober dieses Jahres schlug er seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg mit dem Ziel, der Forderung einer grundlegenden Reform der ganzen Kirche „an Haupt und Gliedern“ in aller Öffentlichkeit Ausdruck zu verleihen.

Eine kluge Kirchenpolitik hätte sich die Bestrebungen der Anhänger Luthers zu eigen machen und damit die Spaltung und den Beginn des eigenen Verfalls aufhalten können. Man erkannte sogar diese Chance und wollte sie doch nicht nutzen – es ist genauso wie heute, da solche Torheiten zuhauf in Wirtschaft und Politik um sich greifen.

Proteste in der Reformgesinnung Luthers gab es bereits früher. Aber dem wortgewaltigen Augustinermönch kam der Buchdruck zugute, die Möglichkeit, seine Vorstellungen nicht nur einem erlesenen Kreis von Ausgewählten – heute würde man sagen: der Elite –, sondern einer unübersehbar breiten Öffentlichkeit kundzutun. So, dass ihn die damalige Elite – wenn man sich wieder der heutigen Sprache bedient – als Populisten brandmarkt. Und dies im wahrsten Sinn des Wortes, weil es Luther verstand, „dem Volk aufs Maul zu schauen“.

Die größte Gefahr für den damaligen Klüngel der Amtskirche kam von der Verbreitung der von Luther ins Deutsche übersetzten Bibel innerhalb der Bevölkerung. Jede und jeder sollten die Heilige Schrift lesen und deuten. Das „Sapere aude“, der Wahlspruch der Aufklärung, der Aufruf Immanuel Kants, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wurde auf diese Weise zum ersten Mal machtvoll verkündet. Und die Botschaft kam bei dem von der Elite verachteten Volk an. Luthers Einfluss war, wenn man bedenkt, dass die Verbreitung in Papierform und nicht elektronisch erfolgte und erst wenige des Lesens kundig waren, enorm.

Ein aus der Sicht der Elite noch verheerenderer Schachzug des von ihr verdammten Populisten war die Verbreitung von Flugschriften, den Vorläufern der Blogs, vor allem jene „Von der Freyheith eines Christenmenschen“. Begeistert las man das Wort: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Luther, der rein theologisch zu argumentieren meinte, ahnte nicht, welche Sprengkraft es in sich enthielt: Eine jahrtausendealte Hierarchie wurde infrage gestellt. Der Reformator erlebte noch selbst entsetzt, wie „die mörderischen Rotten der Bauern“ seine Schrift verstanden.

Sobald der Populist die Peitsche gibt, kann ein nachträgliches „Das habe ich nicht gewollt!“ das Rasen nicht aufhalten.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt zusammen mit Kollegen das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

Sein neuestes Buch: „Woran glauben. 10 Angebote für aufgeklärte Menschen“ (Brandstätter Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2016)

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