Lässt sich an die Tradition von Wien um 1900 anschließen?

Wichtige Stimuli dafür fehlen – so die Wertschätzung einer Schulung des Wissens von klein auf, die Achtung klassischer Vorbilder und die Freiheit des Denkens.

Wien war um 1900 das geistige Zentrum der Welt. Carl E. Schorske und William M. Johnston lehrten dies schon vor 40 Jahren, und in ihrer letzten Weihnachtsausgabe hat es die britische Zeitschrift „The Economist“ in einem großen Artikel über Wien erneut in Erinnerung gerufen.

Auf diesen Artikel nahm Martin Engelberg in seinem letzten Quergeschrieben (3.1.), „Ein britischer Lobgesang auf das Wien der Jahrhundertwende“, Bezug. Er entwarf eine höchst prägnante Skizze der damaligen Kulturmetropole und behauptete, es seien „die Werte des Liberalismus, die vor 100 Jahren in Wien eine regelrechte Blüte in Architektur, Kunst, Musik und Wirtschaftswissenschaften herbeiführten“.

Ganz kann ich aber seiner monokausalen Deutung nicht beipflichten. Denn wäre dies die einzig gültige Erklärung, bliebe unverständlich, warum just Wien um 1900 die Weltmetropole des Geistes wurde, und nicht Manchester oder eine andere vom Liberalismus geprägte Stadt. Es müssen noch andere Stimuli vorhanden gewesen sein. Drei dieser Triebfedern seien im Folgenden genannt.

• Erstens hat Martin Engelberg in seinem Artikel völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es vorrangig jüdische Bürger waren, die wie zum Beispiel Mahler oder Bárány entweder selbst hervorragende Werke in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht oder die wie etwa Rothschild oder Wittgenstein durch generöse Förderungen die Erbringung dieser Leistungen ermöglicht haben. Waren knapp zehn Prozent der Einwohner Wiens Juden, findet man sie in weitaus höheren Prozentzahlen unter den Künstlern, Wissenschaftlern, Ärzten, Juristen vertreten.

Dies lag sicher daran, dass von alters her jüdische Kinder ab dem dritten Lebensjahr mit dem Alphabet, mit Büchern, mit geistiger Nahrung geradezu bedrängt wurden – selbst dann, wenn die Familien in materieller Not im Schtetl hausten. Sich von Kindheit an mit Wissen auseinanderzusetzen, war überall, selbst am Ostrand der Monarchie das Um und Auf der jüdischen Tradition. Und wenn diese Menschen in die Metropole Wien kamen, wollten sie hier vollends ihr geistiges Talent zur Geltung bringen.

• Zweitens huldigte man damals geradezu den Vorbildern der Vergangenheit. Das Entstehen von wertvollem Neuen ist darin verankert. George Steiner, dessen Vater, leitender Jurist der Österreichischen Nationalbank, aus einer alten Wiener Familie stammte und dessen Mutter, eine geborene Franzos, ihre Wurzeln im galizischen Tschortkau hatte, erzählte in bewegenden Worten, wie seine Eltern das Burgtheater als ihren Tempel und Goethe als ihren Gott verehrten.

Damals hatte das Leben noch, wie es Imre Kertész nennt, ein „individuelles moralisches Ziel (Liebe und Erlösung)“ und einen „gemeinschaftlichen, kreativen Horizont (übergeordnete, höhere, geistigere und schöpferische Daseinsform), auf den der Mensch zuzusteuern wünscht“. Damals wusste man sich noch Idealen verpflichtet, die man heutzutage unbarmherzig und eigenartig lustvoll dekonstruiert. „Klassisch“ – falls man überhaupt noch versteht, was darunter gemeint ist – gilt als überholt.

• Drittens
war der Liberalismus nur eine der vielen Spielarten geistiger Strömungen, die damals Wien durchfluteten, und keineswegs die dominante. Tatsächlich gab es eine bunte Palette divergierender Denksysteme und künstlerischer Richtungen: Markart und Klimt, Freud und Adler, Schönberg und Hauer, von Mises und Schumpeter, Kraus und Hofmannsthal, Weininger und Buber – die Zahl der Antagonisten ist Legion.

Möglich war dies, weil es keine politische Korrektheit gab, die zu Uniformität und zu Einheitsdenken verpflichtet, sondern völlige Freiheit, solange man sich stilvoll zu äußern wusste. Doch auch Stil ist heute zum Fremdwort verkommen.

„Ließe sich heute an diese Tradition anschließen?“, fragt Martin Engelberg. Angesichts der hier genannten Stimuli und der geistigen Situation der Gegenwart wohl kaum.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt zusammen mit Kollegen das Projekt Math.space im Wiener
Museumsquartier.

Sein neuestes Buch: „Woran glauben. 10 Angebote für aufgeklärte Menschen“ (Brandstätter Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2017)

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