Die Welt, in der wir nichts mehr zu schreiben und zu lesen brauchen

Der Informatiker David Gelernter beschrieb jüngst das düstere Bild einer Welt, aus der eine uralte Kulturtechnik verschwunden ist. François Truffauts „Fahrenheit 451“ ist uns näher, als wir glauben.

David Gelernter, Informatiker, Visionär, der den Welterfolg des World Wide Web frühzeitig vorausgesehen hat, und Pionier des „Cloud Computings“, sprach letzten Sonntag im Renaissance-Theater von Berlin und entwarf das Bild einer zukünftigen Welt, dessen Düsternis erschauern lässt.

Wir wissen bereits jetzt, wenn wir Bestellungen via Internet aufgeben, dass die Firmen aufgrund der Wahl, die wir getroffen haben, unsere Vorlieben immer präziser kennen und demnach die Angebote ausrichten, die sie uns über E-Mail zukommen lassen. Natürlich sitzt niemand bei diesen Firmen an der Schreibmaschine, der diese Annoncen den Neigungen der Kunden entsprechend auswählt. All dies geschieht vollautomatisch. Man erhält eine persönlich adressierte Nachricht, verfasst von einer toten Maschine.

David Gelernter denkt nun einen Schritt weiter: Der Computer, den ich bei mir zu Hause bediene, wird in Zukunft in der Lage sein, meine Antworten auf die elektronischen Briefe, die ich zuhauf erhalte, in den elektronischen Kavernen nicht nur zu speichern, sondern sogar so weit zu verarbeiten, dass es in Zukunft gar nicht mehr nötig sein wird, dass ich selbst noch diese Antworten tippen muss.

Die Maschine kennt nicht nur meine Präferenzen, sie kennt auch meinen Wortschatz, meinen Stil. Die Adressaten meiner elektronischen Post werden gar nicht merken, dass es nicht mehr ich selbst war, sondern meine aus Transistoren und Chips bestehende Gedankenprothese, die ihnen schreibt. Ich bin entlastet. Folgerichtig weitergedacht, werden wir wie unbeteiligte Beobachter erleben dürfen, wie unser gesamter Schriftverkehr vollautomatisch zwischen den Myriaden von Absendern und Adressaten hin- und herläuft.

Mag sein, dass wir anfangs noch ein wachsames Auge auf die elektronisch generierte Korrespondenz legen. Doch bald werden wir uns mit Stichproben begnügen. Bis wir schließlich ermüdet das System sich selbst überlassen. Wir brauchen nichts mehr zu schreiben. Auch nichts mehr zu lesen. Nichts mehr.

Wozu auch? Es gibt keine Überraschungen mehr. Die Maschinen haben das volle Repertoire aller einst geschrieben Habenden gespeichert. Das reicht. Mag sein, dass es manchmal Missverständnisse gibt – doch auch dafür ist vorgesorgt: Es gibt elektronische Advokaten, gleichsam Metasysteme, die über die Korrespondenzen „Buch führen“ (welch antiquiertes Wort!) und bei Fehlern, die innerhalb der Briefwechsel auftreten, die Angelegenheiten so bereinigen, dass Menschen aus Fleisch und Blut nicht daran beteiligt sein müssen.

Am Ende wird Schreiben und Lesen eine Kulturtechnik geworden sein, die man buchstäblich nur mehr vom Hörensagen kennt: Ein paar tausend Jahre lang haben sich die Vorfahren damit abplagen müssen, ähnlich, wie deren Vorfahren noch die Oden der Dichter auswendig gelernt und im steten Gesang ihren Kindern vererbt haben. Nun aber reicht es, dass hochauflösende Fernsehbilder uns unterhalten. Wir geraten von der schriftlichen in die ikonische Ära.

Wie unzeitgemäß, dass ich zuweilen noch gern mit der Hand schreibe. Noch dazu in der alten Schrift, von der vor 70 Jahren die braune Diktatur behauptet hat, sie passe nicht „in das Zeitalter von Stahl und Eisen, Glas und Beton“. Und schon gar nicht in das Zeitalter des Computers.


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Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2012)

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