Bildungsromane, Geschichten von Emanzipationen: Von Jesus bis Sido

Ein junger Mann zieht aus, um sich zu finden, beschädigt dabei sich und andere, braucht eine Krise, um sich zu läutern – diese Geschichte ist so alt ist wie die Menschheit. Jetzt halt im ORF.

Es ist nicht einfach, Kinder und Jugendliche zu verantwortungsvollen, ethisch denkenden Menschen zu erziehen. Wer das behauptet, hat keine. Erhobene Zeigefinger halten Kids ganz schwer aus, Moralpredigten ebenso, und Strafen haben noch kaum jemals geholfen. Erfolgversprechender ist, wenn ein Kind ein Vorbild hat, das am eigenen Leib vorführt, wie man das mit dem richtigen Leben eventuell hinkriegen kann. „Role Model“ nennt man das heute.

Ein Role Model muss cool (also mit Mutter und Vater nicht identisch) sein. Es muss Charakterzüge haben, in denen sich das Kind wiedererkennt. Je mehr innere Widersprüche und Schwächen es ahnen lässt, desto besser. Jahrhundertelang hatte man für dieses Erziehungsprogramm die Bibel – die Geschichte eines jungen Außenseiters, der vom Establishment geschnitten wird, sich provokant gebärdet, aber stets die Wahrheit sucht und am Ende die Menschheit rettet.

Später, mit der Aufklärung, übernahm diese Rolle der bürgerliche Bildungs- oder Entwicklungsroman. Thomas Mann oder Hermann Hesse, von „Wilhelm Meister“ über das „Leben eines Taugenichts“ bis hin zu Harry Potter: Die Literatur ist voll von jungen Männern, die Großes, Gutes vorhaben, sich dabei aber selbst im Weg stehen, die hadern und zweifeln, sich unter- oder überschätzen, verklemmt, aggressiv oder selbstzerstörerisch sind.

Die jedoch nachdenken, ihre Fehler erkennen, ihr Verhalten anpassen und dann doch noch ihren Platz in der Gesellschaft finden – samt Anerkennung. An ihnen, so die Botschaft an die jugendlich-ungestümen Leser, nehme man sich ein Beispiel für die eigene gedeihliche Persönlichkeitsentwicklung.

(Bei einer jungen Frau wurde diese öffentliche Erziehungsarbeit stets für weniger wichtig erachtet. Wenn doch, nimmt das Narrativ bei ihr meist einen anderen Verlauf: Erst lebt sie ein angepasstes Leben, ist unglücklich, bricht dann irgendwann aus und versucht, sich selbst zu finden. Was auffallend oft böse – mit Krankheit, Tod oder Selbstmord – endet. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Damit das moralische Erziehungsprogramm funktioniert, ist immer eines zwingend notwendig: die Krise, die existenzielle Gefahr. Sehr oft ist das ein Moment, in dem das Role Model von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird, in dem es zurückfällt in seine alten Verhaltensmuster, die es doch so mühsam überwunden hat.

In diesem Moment könnte alles, jeder Fortschritt, jede Anstrengung, für immer zunichtegemacht werden. Die Wohlwollenden wenden sich ab, die Bösartigen spenden Beifall, der alles verrät, was der tragische Held eigentlich im Sinn hatte. Gleich könnte alles vorbei sein, den Bach runtergehen. „Eh schon wurscht“, sagt man dann, und „scheiß drauf.“

Aber es ist dann eben doch nicht vorbei. Weil jede Geschichte, auch im richtigen Leben, irgendwie weitergeht. Bloß muss jeder Mensch entscheiden, wie. Das nennt man Verantwortung. Was schließlich den Weg freimacht für das Happy End: Selbstreflexion, Erkenntnis, Läuterung, Tränen, Vergebung, Auferstehung.

Nach der Bibel und den großen Dichtern haben wir heute also den ORF als Jugenderziehungsinstanz. Angesichts der erhabenen Tradition, in die er sich einreiht, kann das, was er hier macht, inhaltlich nicht ganz falsch sein. Es ist halt ein eher billiger Abklatsch davon.


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Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2012)

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