Nicht nur die Waren brauchen Freiheit, sondern auch die Menschen

Der Amazon-Skandal genauso wie der gigantische Fleischschwindel zeigen: Von der Grenzenlosigkeit Europas profitieren derzeit die Ausbeuter viel mehr als die Ausgebeuteten. Das muss sich ändern.

Seit der ARD-Doku über Amazon wissen wir genauer, unter welchen Bedingungen jene Menschen arbeiten, die unsere Amazon-Pakete einpacken. (Unter welchen Bedingungen jene arbeiten, die sie uns an die Haustür liefern, wäre der zweite Teil der Geschichte). Tausende Kunden löschten inzwischen empört ihren Amazon-Account.

Nein, das hat man ja niemals ahnen können! Man dachte doch, Amazon beschäftige ausschließlich festangestellte Spezialisten und biete diesen regelmäßige Fortbildungen zum Thema Arbeitsrecht. Genauso, wie man annahm, die Füllung der Tortelloni um 1,99 Euro stamme aus feinstem Beiried vom Hochlandweiderind, das sich von Almkräutern ernährt...

Dermaßen aufgewühlt, geht es dieser Tage also in die Pferdefleischhauerei, um sich dem authentischen Kitzel eines würzigen Pferdeleberkäses hinzugeben, ehe man eine Buchhandlung betritt, erstmals seit vielen Jahren. Echtes Pferdefleisch, echte Buchhändler – dass es so etwas noch gibt! Da spürt man sich beim Einkaufen ja plötzlich wieder! Eine Zeit lang lassen jetzt wohl einige die Finger von Fertigtortelloni und wickeln die Amazon-Packerln ein, wenn sie sie heimlich aus dem Postkasten holen. Gut so.

Aber Läuterung auf Konsumentenseite ist nicht alles. Es gibt noch andere wichtige Fragen, Europa und unser Wirtschaftssystem betreffend, die nur die Politik beantworten kann. Etwa diese: Wie ist es möglich, dass unsere offenen Grenzen in erster Linie großen Profiteuren nützen? Während Kleine, Ausgebeutete, Migranten weiterhin oft an nationale Grenzen stoßen, wenn sie ihr Recht suchen?

Wir haben in den vergangenen Wochen erfahren, wie der freie Warenverkehr in der Praxis funktioniert. Wie Fleisch von einer Ecke Europas in die andere gekarrt wird, von Rumänien nach Irland, von Zypern nach Italien. Hier wird umetikettiert, da durch die Wurstmaschine gedreht, dort mit anderem Zeug zusammengemischt und dann alles wieder auf die Reise geschickt, tausende Kilometer weit.

Offenbar ist der Hauptzweck: die Unterschiede zwischen den Vorschriften, Grenzwerten und Produktionsbedingungen der verschiedenen Länder auszunützen und die Nachvollziehbarkeit so sehr zu verschleiern, bis die Kontrollinstanzen sich nicht mehr auskennen und w.o. geben.

Ähnliches wissen wir nun, dank der Amazon-Affäre, über die Praxis der Leiharbeitsfirmen. Auch diese agieren längst global, werben in Rumänien oder Spanien Arbeitssuchende an, karren sie tausende Kilometer weit zu ihren Massenunterkünften, machen ihnen oft falsche Versprechungen, lassen sie irreführende Vereinbarungen unterschreiben, umgehen das Arbeitsrecht, indem sie sich auf Bestimmungen eines anderen Landes berufen.

Meistens können sie sich darauf verlassen, dass sie damit durchkommen. Weil sich die Betrogenen nicht auskennen, sich nicht trauen, vor Gericht zu ziehen. Weil sich das Gastland für ihre Rechte nicht zuständig fühlt und es keine übergeordneten Instanzen gibt, an die sie sich wenden können. In solchen Momenten sind die engen Grenzen sehr nützlich – allerdings wieder nur für die Ausbeuter.

Die EU ist groß, frei und durchlässig für Waren. Aber erst, wenn dasselbe auch für Menschen gilt, für ihre Arbeitsrechte, Gesundheit und ihre sozialen Versicherungsansprüche – erst dann hat es Europa wirklich geschafft.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2013)

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