Blonde Maria, arme Maria: Wir werden dich vor den Roma retten!

Die Geschichte eines sechsjährigen Mädchens zeigt wie in einem Brennglas, wie Rassismus funktioniert.

Im „Fall Maria“, der vergangene Woche in ganz Europa Schlagzeilen machte, ging es um alles Mögliche. Aber worum genau eigentlich?

1.Es gibt Eltern, die nicht in der Lage sind, ihre leiblichen Kinder großzuziehen. Manchmal hat das ökonomische, manchmal soziale, medizinische oder persönliche Gründe; im Lauf der Menschheitsgeschichte jedenfalls kam es schon zigmillionenfach vor. Wenn Eltern das einsehen und ihr Kind anderswo in Pflege geben, ist das normalerweise ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein: Sie wollen, dass es dem Kind besser geht. Meist lobt man Eltern dafür. Bloß hier nicht: Da wurden sie wegen „Kindsweglegung“ eingesperrt. Weil sie Roma sind?

2.Es gibt Eltern, die Kinder großziehen, die nicht die leiblichen eigenen sind. Auch das kam historisch zigmillionenfach vor, wird normalerweise von der Gesellschaft gelobt, mitunter sogar materiell belohnt. Bloß hier nicht. Da wurden die Pflegeeltern ebenfalls eingesperrt, wegen vermuteter „Kindesentführung“. Weil sie Roma sind? Und weil Roma nichts richtig machen können, egal, ob sie Kinder weggeben oder aufnehmen?

3.Nicht alle Roma Europas leben im Elend. Aber sehr viele tun es. Die Bilder aus beiden Roma-Siedlungen, der bulgarischen ebenso wie der griechischen, zeigen Lebensbedingungen aus vormodernen Zeiten: desolate Hütten ohne Wasser, ohne Strom. Die Ursachen dafür sind komplex. Mitten in der reichen EU kann man solche Lebensbedingungen zu Recht als menschenunwürdig bezeichnen. Doch wieso sind sie für ein blondes Kind unzumutbarer als für Millionen schwarzhaariger Kinder?

4.In der griechischen Bürokratie liegt vieles im Argen. Insbesondere das Meldesystem ist, wie dieser Fall zeigt, anfällig für Missbrauch und Korruption. Offenbar ist es eine Art Volkssport, Kinder in verschiedenen Regionen anzumelden, um mehrfach Kindergeld zu beziehen, und offenbar taten das auch Marias Pflegeeltern (von ihren angemeldeten 14 Kindern sind nur vier greifbar). Betrug am Staat ist verwerflich. Er sagt jedoch nichts darüber aus, wie Eltern ihre Kinder behandeln. Oder nimmt man jetzt allen Steuerhinterziehern, in Griechenland und anderswo, die Kinder weg?

Was uns zu 5. führt, der Art und Weise, wie dieser Fall aufgeflogen ist: Bei einer „Routinerazzia“ in der Romasiedlung lugte der blonde Schopf des Mädchens unter einer Decke hervor. Da es den Eltern nicht ähnlich sah, ordneten die Behörden einen DNA-Test an. Nähme die Polizei unsere Kinder auf die Wache mit, weil sie meinte, sie sähen uns nicht ähnlich genug – wir wären zu Recht entrüstet. Aber weil es sich um Roma handelt, darf man das?

6.Von hier zum Generalverdacht ist es da nur noch ein kleiner Schritt. Tatsächlich weckte der Fall überall in Europa Denunzianten: In Irland wurden ein siebenjähriges Mädchen und ein zweijähriger Bub ihren Eltern vorübergehend weggenommen, weil jemand meinte, sie seien „zu blond“ für ihre Roma-Eltern; in Novi Sad gab es einen ähnlichen Fall. Hätten diese Eltern vielleicht Abstammungsnachweise anfertigen und permanent bei sich tragen sollen, um die Hellhäutigkeit ihrer Kinder rechtfertigen zu können?

7.Maria soll nun zur Adoption freigegeben werden, heißt es. Aber warum? Das Kindswohl wäre dafür das einzig richtige Kriterium – doch von diesem ist auffallend wenig die Rede. Bisher hat niemand behauptet, die Pflegeeltern hätten Maria schlecht behandelt. Bleibt der vage Wunsch der Obrigkeit, sie aus den tristen sozialen Verhältnissen zu „retten“ und zu „zivilisieren“, notfalls gegen den Willen ihrer Familie.

Das schließlich erinnert fatal an die staatlich verordneten Kindswegnahmen, die Roma bereits kennen – ebenso wie die amerikanischen Ureinwohner oder die australischen Aborigines. Samt aller verheerenden psychischen und sozialen Folgen.

Maria ist derzeit in Obhut einer NGO. Sie sei ein aufgewecktes Kind, sagen ihre Betreuer, allerdings weine sie viel. Kein Wunder.

E-Mails an:debatte@diepresse.comSibylle Hamann ist Journalistin in Wien. Ihre Website:


www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2013)

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