Radfahren verlernt man nicht Hoffentlich gilt das auch in China

Ob die globale Klimawende eine Chance hat oder nicht, wird stark von China abhängen – und auch von der Frage, ob man dort noch Luft zum Atmen hat.

Peking oder Shanghai vor 30 Jahren: Da konnte man studieren, wie perfekt Fortbewegung funktionieren kann. Wie pulsierende Blutgefäße sahen die großen Boulevards aus, oder wie ein Gewässersystem, das sich um Kurven winden, durch Engstellen schmiegen und an jeder Kreuzung neue Zuflüsse aufnehmen konnte.

Die Menschen waren auf Fahrrädern unterwegs. In ähnlichem Tempo, auf ähnlichen Rädern (fast alle schwarz), in ähnlicher Kleidung (häufig noch das Blau der Mao-Anzüge), strampelten sie stoisch stadteinwärts, stadtauswärts. Die wahre Herausforderung folgte erst am Ziel: das Rad auf einem der riesigen Parkplätze so abzustellen, dass man es nachher, unter tausenden anderen, wiederfinden würde.

Diese Art der Fortbewegung war zeitlich berechenbar, kaum störungsanfällig (solange kein platter Reifen passierte), billig, sicher und gesund. Man war unabhängig von Engpässen in der Energieversorgung. Gleichzeitig symbolisierte Radfahren in China jedoch die Mangelwirtschaft. Schon optisch stand es für Uniformität und Gleichschaltung, für die körperlichen Mühen des Alltags und ein obrigkeitsstaatliches Zwangssystem.

Unglaublich fern scheinen diese Bilder, wenn man heute in einer chinesischen Metropole steht. Die Boulevards, auf denen einst viele Dutzend Radfahrer nebeneinanderpassten, bieten heute vier, vielleicht sechs Autospuren Platz, doch das reicht niemals. Der Autoverkehr nimmt zusätzlich noch Radspuren und Gehsteige in Besitz. Ganze Stadtviertel, ja ganze Städte sind ihm geopfert worden.

Dennoch verkeilt sich ständig alles, alles steckt fest, und nie weiß man, wie lange man unterwegs sein wird. Bauen, bauen, fahren, fahren, kaufen, kaufen, stauen, stauen: Das symbolisiert – nicht nur in China – den Fortschritt. Es steht für Konsum, Wachstum und Wohlstand.

Bis zu dem Punkt, an dem man keine Luft mehr kriegt. Dieser Punkt ist in China heute erreicht. Zwei Jahre ist es her, dass die Regierung erstmals Messwerte über die Luftverschmutzung veröffentlicht hat. Beinahe alle Städte sind permanent im gesundheitsschädlichen Bereich, oft monatelang. Es gibt Tage, an denen man die Gebäude auf der anderen Straßenseite nicht mehr sieht, so dicht ist der gelbgraue Schleier aus Smog.

Längst schon hält man sich nicht länger als notwendig im Freien auf. Sport gibt es nur in der Halle. Kinder spielen nicht mehr draußen. Eliteschulen werben nicht mit ihren tollen Unterrichtsmethoden, sondern mit ihren tollen Luftfiltern – und dem Versprechen, dass die Schüler garantiert den ganzen Tag das Gebäude nicht verlassen. Radfahren lernen sie erst gar nicht mehr. Wozu auch? Ist ja sehr ungesund.

Eine Zeit lang filtert man solche Unannehmlichkeiten wohl einfach weg, akzeptiert sie als unvermeidliche Begleiterscheinung von Fortschritt und Konsum und Wohlstand (das war in Europa und in den USA der 1960er-Jahre nicht anders). Solange bauen, bauen, fahren, fahren, kaufen, kaufen noch relativ neu sind und es viel aufzuholen gibt. Doch an welchem Punkt kippt der Fortschritt? Wo beginnt er, die Lebensqualität nicht zu steigern, sondern zu vermindern?

China, mit seiner gewaltigen Größe und Dichte, scheint auf diesen Punkt rascher zuzusteuern als jede andere Weltgegend. Für ausländische Fachkräfte ist das Land, trotz guter Verdienstmöglichkeiten, kein attraktiver Arbeitsort mehr. Internationale Unternehmen tun sich immer schwerer, Angestellte samt ihren Familien ins Land zu locken.

Umweltkonflikte sind inzwischen der häufigste Auslöser für Kritik an der Obrigkeit. An ökologischen Problemen entzündet sich immer öfter zivilgesellschaftliches Aufbegehren. Während der chinesische Mittelstand, der immer mehr reist, in anderen Ländern sieht, dass „Fortschritt“ auch anders ausschauen kann.

Die globale Energiewende kann nur gelingen, wenn die Chinesen mittun. Hoffen wir, dass sie das Fahrradfahren nicht ganz verlernt haben.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.