Warum muss Fernsehen machen, was die Schule nicht schafft?

Ohne TV-Kameras hätten Asip und Laura, Arthur und Fatima einander nie kennengelernt. Weil wir sie systematisch voneinander fernhalten. Das ist absurd.

Laura ist 14, lernt Gitarre und geht im Turnverein klettern. Atip ist 15 und ein talentierter 100-Meter-Läufer. Laura wohnt in einer geräumigen Altbauwohnung mit Stilmöbeln, natürlich hat sie ein eigenes Zimmer. Asip wohnt samt Familie auf 42 Quadratmetern. Mutter und Schwester schlafen im Stockbett, er und sein Bruder auf Matratzen, die abends auf den Wohnzimmerboden gelegt werden. Auch gefrühstückt wird kniend auf dem Boden – allerdings nicht aus Platzmangel, sondern, weil das eben in Afghanistan so üblich ist. Laura und Asip leben beide in Wien, bloß ein paar Straßenzüge voneinander entfernt. Aber ohne Fernsehen wären sie einander nie begegnet.

Es gibt selten Gelegenheiten, den ORF aus ganzem Herzen zu loben. Doch hier ist eine: Die „Thema“-Redaktion hat mit der Langzeitreportage „Schule fürs Leben“ ein bemerkenswertes Experiment hingekriegt. Sie bringt die 4c aus der neuen Mittelschule Gassergasse mit der 4a aus dem Gymnasium Rahlgasse zusammen.

Die Milieus könnten verschiedener nicht sein: In der 4a behütete Jugendliche aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Sie kämpfen mit Freizeitstress, Legasthenie, pubertären Unsicherheiten, Notendruck oder Langeweile. Doch sie wissen, dass ihnen alle Türen offenstehen. Die Jugendlichen der 4c hingegen kommen von den prekären Rändern der Gesellschaft. Auch sie kennen pubertäre Unsicherheiten, doch dazu kommen existenziellere Erfahrungen: Krieg, Mangel, Entwurzelung, Verlust, Zukunftsangst.

Die Kids aus der 4a haben Eltern, die ihnen mit Beziehungen, Geld, Nachhilfe helfen können. Die Kids aus der 4c hingegen schleppen ihr Bündel meist allein. Auf ihnen lastet Verantwortung – auch für ihre Eltern, die sich selbst oft nicht zurechtfinden, im Deutschkurs oder im Amt.

Die Fremdheit zwischen den Kids ist anfangs groß. „Streber“, „Angeber“ – dieser Ruf eilt den Gymnasiasten voraus. „Die lernen schlecht“, „die sind arm“, heißt es über die Hauptschüler. Umso berührender ist es, ihnen bei der Annäherung zuzuschauen. Wie schnell sie Gemeinsamkeiten entdecken, sich füreinander zu interessieren beginnen: „Aha, so macht ihr das? Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen!“ „O ja, dieses Gefühl kenn ich auch!“ „Wie kommt man auf dem Landweg von Kabul nach Österreich? Erzähl!“

Ihre Kinder sollen weltoffene Menschen werden, mit Interesse für Sprachen und fremde Länder, sagen die Bildungsbürgereltern. Noch nie, erzählt jedoch Asips Mutter, sei sie bei einer österreichischen Familie zu Besuch gewesen, und es klingt, als habe sie ihre Geschichte noch nicht oft erzählt. Banale und gleichzeitig unerhört wichtige Begegnungen sind das. Was uns zur Frage führt: Warum braucht es ein Fernsehexperiment, damit sie endlich stattfinden? Warum passieren sie nicht jeden Tag, ganz selbstverständlich?

Die Schule, in der alle 14-Jährigen dieses Landes viele, viele Stunden verbringen, wäre der logische Ort dafür. Zumindest in einer Gesellschaft, der ihr sozialer Zusammenhalt nicht völlig gleichgültig ist. Doch genau das verhindert unser Schulsystem.

Es sortiert Laura und Asip systematisch in verschiedene Gebäude, lässt sie nichts übereinander erfahren, nichts voneinander lernen. Wie einst Romeo und Julia leben sie in derselben Stadt, in getrennten Welten. Was keiner der beiden Welten guttut.

„Manchmal habe ich den Eindruck, die Kinder sind unvorbereitet aufs Leben“, sagt einer der Väter einmal. „Sie lernen die Zusammenhänge nicht“, sagt eine Mutter. Was brauchen Jugendliche, um die Welt in all ihrer Komplexität zu begreifen, sich in ihr zurechtzufinden? Ein guter Anfang wäre: die Welt in all ihrer Komplexität kennenzulernen, die in der anderen Schule beginnt.

Derweil dürfen das noch nicht alle Kids, sondern bloß die 4a und die 4c. Und wir dürfen es uns nicht im richtigen Leben anschauen, sondern bloß im Fernsehen. Immer montags um 21.10 Uhr, noch bis Juni.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2014)

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