Männlich oder weiblich? Du musst dich nicht entscheiden

Man denkt und handelt nicht als Mann oder als Frau, sondern vor allem als Individuum. Das ist eine der großen Errungenschaften der Moderne.

Hijras sind nicht ganz Mann und nicht ganz Frau. Meistens mit männlichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen, fühlen und kleiden sie sich eher wie Frauen. Ihre sexuellen Neigungen sind unterschiedlich, einige verzichten ganz auf körperliche Beziehungen und haben sich der Spiritualität verschrieben. Sie leben miteinander in abgeschotteten kleinen Gemeinschaften, Mönchen oder Nonnen ähnlich, am Rand der Gesellschaft, oft unter Führung eines mütterlichen Gurus.

Sie haben eigene sprachliche Codes, mit denen sie sich verständigen. Kinder, die wegen ihres Andersseins aus ihren Familien verstoßen werden, finden in diesen Gemeinschaften Unterschlupf.

Hijras spielen auf dem indischen Subkontinent seit dem Altertum eine wichtige Rolle. Ihr Segen brachte neugeborenen Babys Glück, oft dienten sie als Wächter von Palästen oder Heiligtümern. Von dieser traditionellen Anerkennung ist ihnen im modernen Indien, einer konservativen, streng nach Kasten gegliederten hierarchischen Gesellschaft, nur die Außenseiterrolle geblieben.

Hijras sind stigmatisiert, werden im Alltag ausgegrenzt. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie oft mit Singen, Tanzen, Betteln – oder als Prostituierte. Sie müssen damit rechnen, auf der Straße belästigt, in Spitälern weggeschickt, auf Polizeistationen misshandelt zu werden. Noch häufiger als andere Menschen in Indien sind sie sexueller Gewalt ausgesetzt.

Vor drei Monaten jedoch erlebten die Hijras einen Freudentag: Der Oberste Gerichtshof Indiens erkannte rechtlich ihre Existenz als drittes Geschlecht an. Auf Dokumenten müsse in Hinkunft neben männlich und weiblich ein drittes Kästchen zum Ankreuzen vorhanden sein. Es sei „das Recht eines Menschen, sein Geschlecht selbst zu bestimmen“, urteilte das Gericht. Ähnliche Gesetze – und ähnliche Traditionen – gibt es in den Nachbarländern Nepal, Bangladesch und Pakistan.

Sind die Hijras also etwas Exotisches, ein Relikt aus vormodernen Zeiten? Etwas, was nur unter den Bedingungen starker religiöser Traditionen und einer rigiden patriarchalen Sexualmoral existiert?

Nein. Australien, Neuseeland und Deutschland, liberale, laizistische Länder mit einer eher lockeren Sexualmoral, haben ähnliche Gesetze hervorgebracht. In Australien focht die Aktivistin Norrie May-Welby bis zum Höchstgericht das Recht durch, sich amtlich mit unbestimmtem Geschlecht (non-specific) definieren zu dürfen. Und in Deutschland gilt seit einem halben Jahr ein neues – kaum bekanntes – Personenstandsgesetz, das es ermöglicht, ein Baby ins Geburtenregister einzutragen, ohne zu entscheiden, ob es weiblich oder männlich ist.

Weil weiblich und männlich eben manchmal nicht so eindeutig unterscheidbar sind. Weil es überhaupt keinen Grund gibt, eine Entscheidung zu erzwingen, die viel Leid erzeugen und an Seele und Körper viel kaputtmachen kann. Weil manche Menschen eben Zeit brauchen, um draufzukommen, auf welche Seite sie gehören. Und weil, je länger man drüber nachdenkt, immer unklarer wird, wofür das überhaupt so dringend notwendig sein soll: zu einer der beiden Seiten zu gehören.

Wer braucht sie denn tatsächlich, die Einteilung in Männer und Frauen? Das Amt? Die Kleiderhersteller? Die Statistik? Der Türsteher im Nachtclub? Der Partner, die Partnerin? Die Kinder? Begegnet man jemandem anders, weil man sein/ihr Geschlecht kennt? Ist seine/ihre Leistung weniger wert? Schätzen wir eine Eigenschaft an einer Frau mehr als an einem Mann? Ist eine Verhaltensweise, die bei einem Mann okay ist, bei einer Frau plötzlich abstoßend, und umgekehrt?

Nein. Ein Mann zu sein verpflichtet zu gar nichts. Eine Frau zu sein ebenso wenig. Wir denken und handeln und lieben und arbeiten als Individuen. Und das ist gut so.

Und was das alles mit dem/der Conchita Wurst zu tun hat? Nicht alles. Aber einiges schon.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2014)

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